Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Tagung zu Hirnforschung und Recht

«Der freie Wille» und das Recht

Die moderne Hirnforschung stellt den so genannten freien Willen des Menschen infrage. Sind wir am Ende gar nicht verantwortlich für das, was wir tun? Wenn das so ist, muss auch der juristische Schuldbegriff revidiert werden. Eine Tagung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät gibt Antworten aus naturwissenschaftlicher, medizinischer und juristischer Sicht.
Interview: Marita Fuchs

Am 4. März 2008 diskutieren Hirnforscher, Rechtswissenschaftler und Psychiater im Rahmen der UZH-Jubiläumsveranstaltungen die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung und deren Auswirkungen auf das Recht. Professor Andreas Kley hat die Tagung der Rechtwissenschaftlichen Fakultät organisiert und umreisst für unipublic das Themengebiet und die Relevanz der Hirnforschung für unser Rechtssystem.

unipublic: Professor Kley, Juristen arbeiten mit dem Konzept der menschlichen Freiheit. Ganz im Sinne Kants, der davon ausging, dass die Menschen frei sind, wenn sie ihre rationalen Erwägungen selbst steuern. Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen nun, dass das menschliche Handeln häufig unbewusst ist und letztendlich von neuronalen Prozessen im Gehirn gesteuert wird. Ist der freie Wille also eine Illusion?

Professor Kley: Ein liberaler Rechtsstaat ist ohne den Glauben an den freien Willen des Menschen praktisch undenkbar. Der freie Wille ist geradezu ein Axiom des von der Aufklärung bestimmten liberalen Rechtsstaats und Grundlage des Rechts. Die Hirnforschung stellt diese Grundannahme nun in Frage und findet neuronale und chemische Erklärungsmuster dafür, warum Menschen sich in bestimmter Weise verhalten.

Andreas Kley, Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie wird die Tagung «Hirnforschung und Recht» moderieren.

Dieses eher mechanistische Menschenbild wirft grosse Probleme auf: Es sind davon nicht nur das Recht, sondern auch die Politik und andere Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens betroffen. Freie Bürger und auch freie Wähler gäbe es dann nicht mehr; alles wäre eine Frage der Gehirnprozesse. Zu Ende gedacht, kommt man schnell zu deterministischen Staatsmodellen und zu der Frage, wer denn schlussendlich das Sagen hat, wenn die Menschen nicht frei sind.

Selbst wenn wir nach den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung keinen freien Willen haben, müssten wir trotzdem so tun, als wären wir frei, weil unsere Gesellschaft nicht anders funktionieren kann.

unipublic: Wenn Handlungen nicht auf einen bewussten Willensakt zurückgeführt werden können, muss dann nicht der juristische Begriff der Schuld revidiert werden?

In unserem heutigen Strafrecht ist eine Person nur dann strafbar, wenn sie zurechnungsfähig, also geistig gesund ist und ihre Handlungen aus eigenen Stücken begeht. Wenn Hirnforscher nun sagen, dass nicht der Wille uns Menschen steuert, sondern neuronale Prozesse dahinter stecken, dann ist das Strafrecht in dieser Form in Frage gestellt.

Dann müsste man das Strafrecht ersetzen durch ein Massnahmenrecht. Es gäbe ja nichts zu bestrafen, da der Mensch nicht als Subjekt gehandelt hat, sondern als Objekt zum Handeln veranlasst worden ist. Bei einer Straftat müssten Massnahmen ergriffen werden, um das Zusammenleben der Menschen reibungslos funktionieren zu lassen. Das haben wir heute schon bei Menschen, die nicht schuldfähig sind. Massnahmen sind etwa Verwahrung, Therapien, Arbeitseinsätze usw.

Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen, dass das menschliche Handeln häufig unbewusst ist und letztendlich von neuronalen Prozessen im Gehirn gesteuert wird.

unipublic: Nehmen wir das aktuelle Beispiel Jugendgewalt. Das jugendliche Gehirn ist noch nicht ausgereift. Überbordende Aktionen und auch Gewalttätigkeiten könnten dadurch erklärt werden, dass bestimmte Bereiche des Gehirns noch nicht vollständig entwickelt sind. Muss das Jugendstrafrecht nicht darauf reagieren?

Nehmen wir mal an, dass jugendliche Gehirne noch nicht vollständig ausgereift sind, so stellt sich das Problem noch verstärkt dar: man müsste für Jugendliche und junge Erwachsene andere Massnahmen entwickeln.

Durch die Erkenntnisse der Hirnforschung werden auch populistische Forderungen nach härteren Strafen für junge Straftäter in Frage gestellt.

unipublic: Hinkt die Rechtssprechung hinter der aktuellen Entwicklung der Hirnforschung hinterher und müsste sie nicht viel schneller reagieren?

Das Recht hinkt hinterher und will auch hinterherhinken, es will nicht jedem Trend folgen. Es antwortet jedoch auf gesellschaftlich neue Problemlagen, und die Erkenntnisse der Hirnforschung könnten jetzt solche Anpassungen erzwingen. Wenn man nun wirklich feststellt, dass der freie Wille nicht so stark ist, wie die Gesellschaft bisher angenommen hat, muss man sich fragen, was sich ändern muss am Recht. Dramatisch ist es insofern, als letztendlich nicht nur die Jurisprudenz, sondern auch die aufklärerisch rechtsstaatliche Kultur in Frage gestellt wird.

unipublic: Sie sagen, dass das Recht nicht sofort jedem Trend folgen sollte. Finden Sie die mediale Beachtung der Hirnforschung übertrieben?

Ja. Mich hat es überrascht, dass die Hirnforschung medial so sehr im Zentrum steht. Es ist fast wie eine kollektive Besessenheit. Man erhofft sich Erkenntnisse, die ein neues Leben ermöglichen, da man plötzlich weiss, wie der Mensch tickt. Dieses neue Leben ist kaum denkbar, ohne die gesellschaftliche Ordnung völlig umzustrukturieren.

unipublic: Was erhoffen Sie von der Tagung an neuen Erkenntnissen und Initiativen?

Wir haben renommierte Referenten eingeladen, die aus ihrer eigenen Disziplin heraus und klar ihre Meinungen vertreten werden. Zum Bespiel ist der Neurowissenschaftler Gerhard Roth aus Bremen davon überzeugt, dass dem Grundpfeiler aller modernen Rechtssysteme – dem Strafen nach dem Schuldprinzip – ein fundamentaler Irrtum zugrunde liege: Kein Mensch habe überhaupt die Wahl, moralisch gut oder böse zu agieren. Denn der freie Wille sei blosse Illusion, das Böse im Kopf ein biologisches Phänomen. Das wird sicherlich zu spannenden Diskussionen führen.