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Es ging sekundenschnell: Rektor Hans Weder packte den einen Zipfel des seiden schimmernden Überwurfs, Pipilotti Rist den anderen. Dann rannten beide los, und unter dem flatternden Tuch wurde sie sichtbar – die leuchtend blaue Riesencouch, bestickt mit Namen, Titel und Lebensdaten von Emilie Kempin-Spyri. Der Publikumsandrang war gross, der Applaus ebenso. Zu den Klängen der sechs Metamorphosen von Benjamin Britten, vorgetragen vom Saxophonisten Rico Gubler, streiften die Mutigsten und Neugierigsten unter den Gästen ihre Schuhe ab und begannen, das hohe Polster zu erklimmen.
Das monumentale Möbel, vor dem Erwachsene klein wie Kinder wirken und das im Lichthof einen heiteren Akzent setzt, ist ausdrücklich zum Gebrauch bestimmt. «Ruhen Sie sich darauf aus, denken Sie nach – aber schlafen sie nicht ein dabei!», forderte Pipilotti Rist das Publikum auf. Für die Künstlerin symbolisiert die freie Zugänglichkeit der Couch die Vorreiterarbeit von Emilie Kempin-Spyri im Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen; darauf könne man sich heute abstützen. Die ungewohnte Dimension des Möbelstücks, so Rist, deute darauf hin, dass die Rechte und Freiheiten der Gegenwart keine Selbstverständlichkeit seien, sondern hart hätten erkämpft werden müssten.
Emilie Kempin-Spyri, Nichte der Heidi-Autorin Johanna Spyri, begann mit 32 Jahren an der Universität Zürich Jura zu studieren. Sie doktorierte 1887 als erste Schweizer Juristin. Aufgrund ihres Geschlechts wurde ihr das Anwaltspatent verwehrt. Vor dem Bundesgericht forderte sie die volle Gleichstellung der Frauen – und erlitt eine Niederlage. Sie emigrierte nach New York, baute dort eine eigene Rechtsschule auf, kehrte dann aus Rücksicht auf ihre Familie zurück, kämpfte weiter für Gleichberechtigung – und starb verarmt und vereinsamt mit 48 Jahren in einer Irrenanstalt.
Ihr Leben, so Rektor Hans Weder, lasse sich auf zweierlei Weise erzählen: zunächst als Geschichte einer talentierten Frau, die es gewagt habe, ihren Verstand zu gebrauchen, deren Elan dann aber an den aus heutiger Sicht befremdlich wirkenden Konventionen ihrer Zeit zerbrochen sei. Andererseits fänden sich in ihrer Biografie aber auch wichtige Wegmarken einer hoffnungsvollen Entwicklung hin zu besseren Verhältnissen. 1891 sei sie erste Schweizer Hochschuldozentin geworden – und dies nicht zufällig gerade an der Universität Zürich, die seit 1860 in Sachen Frauenstudium eine auch im internationalen Vergleich sehr fortschrittliche Kultur gepflegt habe.
Brigitte Woggon, Psychiatrieprofessorin und Präsidentin der Gleichstellungskommission, moderierte das Emilie Kemper-Spyri gewidmete Symposium in der Aula. Unter den zahlreichen geladenen Gästen begrüsste sie unter anderem die Autorin Eveline Hasler, die mit ihrem Roman «Die Wachsflügelfrau» 1991 das Schicksal von Emilie Kempin-Spyri wieder bekannt gemacht hatte. Woggon skizzierte die Vorgeschichte des Denkmals, zu dem sowohl Eveline Hasler auch als die Zürcher Gesellschaft zur Fraumünster wichtige Anregungen gegeben hätten. Pipilotti Rists Skulptur, für die sich die Universitätsleitung auf Vorschlag einer eigens eingesetzten Arbeitsgruppe entschieden habe, sei, so erklärte Woggon, dazu geeignet, «innezuhalten, nachzudenken und die Entschlusskraft zu fassen, weitere Schritte zu unternehmen, um die Gleichstellung von Frauen und Männern an der Universität Zürich umzusetzen.»
Der Historiker Jakob Tanner verglich in seinem Vortrag Pipilotti Rists Kunstobjekt mit einer Freudschen Couch. Es symbolisiere die verdrängten Aspekte der vielfach gebrochenen und konfliktdurchwirkten Schweizer Geschichte. Tanner würdigte Emilie Kempin-Spyri als eine «pragmatische, flexible, erfinderische, innovative» Frau, die «mit unverwüstlichem Willen zur Selbstbehauptung» das «aufklärerische Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft nach Gleichheit und Anerkennung einforderte und dabei aktiv an der Gestaltung der sozialen Verhältnisse mitwirkte.» Kempin-Spyri sei eine Aktivbürgerin gewesen, die den Tatbestand, dass man ihr kein Aktivbürgerrecht zugestand, skandalisiert habe.
Jus-Professorin Beatrice Weber-Dürler zeichnete in ihrem Referat den Wandel der Rechtsanschauung im Hinblick auf Gleichstellungsfragen seit Emilie Kemper-Spyri nach. «Offensichtlich», resümierte sie, «vermochte auch eine konsequente rechtliche Gleichstellung die gesellschaftliche Schlechterstellung der Frauen bis heute nicht zu beseitigen». Aktuell gehe die Tendenz dahin, statt der als zu formal erkannten absoluten Gleichbehandlung flexiblere Lösungen zu fordern, die eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von Mann und Frau wieder vermehrt zuliessen.
Barbara Haering schliesslich, bis vor kurzem Universitätsrätin der UZH, zeigte sich stolz darauf, was Frauen im Geist von Emilie Kempin-Spyri in der Schweiz bis heute erreicht hätten. Im gleichen Zuge aber mahnte sie weitere Anstrengungen zur Geschlechtergleichstellung an, auch an den Universitäten: Insbesondere die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirke sich für Frauen noch immer karrierehemmend aus. Die Frauen müssten im Rahmen der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung spezifische Unterstützung finden, um in den höheren akademischen Hierarchiestufen stärker vertreten zu sein.