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Paris Hilton wird vorzeitig aus dem Bezirksgefängnis von Los Angeles entlassen. Tränen netzen ihre bleichen Wangen, und die bange Frage wird weltweit und medienübergreifend lanciert: War das rechtens? Paris Hilton ist berühmt wegen – nichts. Trotzdem wird über sie geschrieben. Medien greifen vermehrt auf so genannte Hypes zurück, also auf Themen, zu denen die Berichterstattung weit über die Relevanz hinausreicht.
Für den Soziologen und Medienkenner Professor Kurt Imhof, der als Leiter «Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft» (fög) der Universität Zürich zusammen mit Schweizer Radio DRS zur Tagung über Medienhypes geladen hatte, gehören Hypes zum Thesenjournalismus, der häufig moralisierend auftrete. Hypes hätten Folgen: Betroffene Akteure können verunglimpft und in ihrer Persönlichkeit stark verletzt werden, bei Rezipienten können sie eine Wahrnehmungsverzerrung verursachen. Imhof erörterte Voraussetzungen und Entstehung von Hypes und diskutierte sie mit Medienpraktikern.
Drei Typen von Hypes sind nach Imhof auszumachen. Erstens: Wie im Fall von Paris Hilton, Britney Spears oder Lady Diana wird die hohe Publizität einer Person aufgebauscht und inszeniert.
Zweitens: Katastrophen werden instrumentalisiert. Beim Thema Waldsterben zum Beispiel hätten alle Medien ins gleiche Horn gestossen. Experten wurden zitiert und beklagten damals medienübergreifend das Sterben des Waldes, sagte Imhof. Und die simple Gleichsetzung von sterbendem Baum und Auspuffrohr habe sogar zu einem neuen Umweltschutzgesetz geführt. Inhaltlich sei die Gleichsetzung allerdings falsch gewesen. «Die Autopartei hatte damals recht, jedoch keine Chance, sich während des Hypes Gehör zu verschaffen», meinte Imhof.
Der dritte Hype-Typ folge einer Moralisierungslogik. Täter und Opfer, Zeugen und Experten betreten die narrative Bühne, wie Gestalten einer alten Sage. «Das von aller Moral befreite Böse», schrieb der Blick über die angebliche Gruppenvergewaltigung einer Minderjährigen im Schulhaus Seebach im November 2006. «Es gab keine Kritik, alle Medien berichteten dasselbe», führte Imhof aus. Dabei seien massive journalistische Fehler begangen worden; wie zum Beispiel die Befragung von Schülern durch Journalisten und die ungefilterte Wiedergabe der Schülermeinungen als Gerüchte in den Medien. Prompt sei dieses Event von der Politik aufgegriffen worden und habe zur Ausschaffungsinitiative geführt. Im Nachhinein sei die Berichterstattung über den Fall Seebach nur noch peinlich, meinte Imhof.
Nur, wie erlebt das Publikum Hypes? Anhand der Medien-Berichterstattung um den 1. August und das Rütli zeichnete Imhof einen typischen Hype nach, zu dem er und seine Mitarbeiterin Esther Kamber eine Leserbefragung durchgeführt haben.
47 Prozent der Befragten fühlten sich zum Thema Rütli überversorgt. 10 Prozent hatten das Gefühl, zu wenig Informationen erhalten zu haben und 36 Prozent fanden die Berichterstattung angemessen. Die Gruppe der Überversorgten bestehe vor allem aus älteren, gut ausgebildeten Personen mit höherem Einkommen, die Medien intensiv nutzen. Zu den Unterversorgten zählen mehrheitlich junge Personen mit tieferer Bildung und einem eher naiven Umgang mit Medien, sagte Esther Kamber. Die unspezifische Gruppe wiederum besteht aus weniger gut ausgebildeten Personen, darunter viele Nichtschweizer.
Die Gruppe der Überversorgten, immerhin etwa die Hälfte der Befragten, nahm die Berichterstattung als Hype wahr. Bei diesen habe die Überversorgung dazu geführt, dass sie an der Glaubwürdigkeit der Medien zweifelten, konstatierte Imhof. Die Mischung aus Rechtsextremismus, Nationalismus, dem Rütli als emotional aufgeladenem Symbol und die moralische Unterteilung in einfache Kategorien wie gut und böse prädestiniere dieses Thema zu einem Hype, führte Imhof aus.
Die an der Tagung anwesenden Chefredakteure bekannter Schweizer Medien wehrten sich gegen die wissenschaftliche Kritik. Marc Walder, Chefredaktor des SonntagsBlicks, sieht im Verlust der Glaubwürdigkeit – der mit den Hypes zusammenhänge – ein Problem. Jedoch habe die Leserschaft bereits reagiert: Bei einer Reader-Scan-Studie mit Blicklesern sei ein grosses Interesse an Nutzwert- und nicht an Hypethemen nachgewiesen worden.
Felix Müller, Chefredaktor der NZZ am Sonntag, hält Paris Hilton für ein Phänomen der Zeit, das für die Medien durchaus erwähnenswert ist. Im Fall Seebach müsse man relativieren: Schliesslich sei der Fall von den Behörden damals als schlimmster Fall seit langem ausgewiesen worden. Die Medien hätten das aufgegriffen und ernst genommen.
Ueli Haldimann, Chefredaktor des Schweizer Fernsehen, verwahrte sich gegen eine einseitige Ausrichtung der Medien auf eine einzige Nutzergruppe: Ich bin für eine gute Mischung für Über- und Unterversorgte, sagte er.
Dass nicht zuletzt das Ausufern der Hypes auch an veränderten Strukturen in den Redaktionstuben liege, betonte Vinzenz Wyss vom Institut für angewandte Medienwissenschaft, der Zürcher Hochschule Winterthur. Die klassische Einteilung in verschiedene Ressorts wie Wirtschaft, Kultur und Politik mit Ressortleitern wurde in den letzten Jahren zugunsten einer Matrixstruktur aufgegeben, in der alle Ressorts eng verknüpft seien und die Journalisten für verschieden Ressorts und mit unterschiedlichen Chefs arbeiten könnten. Das führe auch dazu, dass das Augenmass für die Relevanz eines Themas verloren gehen könne, früher die Aufgabe eines erfahrenen und verantwortungsbewussten Ressortleiters.
Paris Hilton wird uns wohl erhalten bleiben.