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Wo und in welchem Umfang haben wissenschaftliche Disziplinen ihre Berührungspunkte? Im Fall von Philosophie und Psychoanalyse sind sie derart zahlreich, dass man besser von Berührungsflächen spricht. Trotzdem gibt es Gegenstände, denen sich beide von so unterschiedlicher Seite annähern, dass eine wirkliche Verbindung noch aussteht.
Ein solcher Gegenstand ist das Phänomen der Normativität. Philosophische Theorien von der Regelgeleitetheit menschlichen Handelns konzeptualisieren anspruchsvoll die Bedeutung der Normen im Umgang der Menschen miteinander, zeigen die Struktur dieser Normen auf und formulieren die Bedingungen ihres Funktionierens.
Anders die psychoanalytische Theorie. Freuds einflussreiches Konzept vom Über-Ich etwa stellt die Einhaltung von Regeln als eine Entwicklungsleistung dar, die auf der Identifikation mit dem mächtigen elterlichen Agenten und der Internalisierung seiner Vorschriften beruht.
Das Befolgen von Regeln beruht auf psychischer Regulierung. Indes vernachlässigen psychoanalytische Theorien die Tatsache, dass Normen als Medien menschlichen Zusammenlebens der produktiven Aushandlung zwischen Menschen unterliegen. Sie werden nicht nur befolgt, sondern in der Verwendung gemeinschaftlich gemacht.
Wie die intrapsychischen Vorgänge der Regulierung haben auch soziale Normen ihre eigene Dynamik. Die interdisziplinäre Reflexion über das Zusammenspiel beider Dynamiken war das ausdrückliche Ziel der Tagung.
Mit Prof. Georg Kohler von der Universität Zürich und Dr. Andreas Cremonini sowie Dr. Matthias Vogel von den Universitäten Basel und Frankfurt vertraten drei Referenten die Seite der Philosophie. Als profunde Kenner der psychoanalytischen Theorie bemühten sie sich indes um eine Integration psychodynamischer und philosophischer Ansätze.
Andreas Cremonini setzte sich mit den verschiedenen Konzeptionen auseinander, mit denen die neueren philosophischen Theorien der Normativität und die klassische Psychoanalyse den «Anderen», also den Mitmenschen, begreifen. In der Philosophie erscheine der Mitmensch als «Träger von Normen», die in der Begegnung mit dem Anderen implizit Anerkennung fordern. Freuds Theorie dagegen sieht gemäss Cremonini den Mitmenschen als «Triebobjekt», als bloßes Medium der Triebbefriedigung. Dem Referenten kam es darauf an, zu zeigen, wie beide Positionen, solange sie einander opponieren, sich gegenseitig zu verdecken vermögen.
Georg Kohler führte in seinem Vortrag über «Sokrates’ Stachel» philosophiegeschichtlich vor, wie die Rede vom «zwanglosen Zwang des besseren Arguments» (Habermas) bereits bei Sokrates initiiert sei. Dieser habe seine Zeitgenossen durch die Aufforderung gelähmt, ihr Tun einmal versuchsweise zu begründen.
Matthias Vogel aus Frankfurt beschäftigte sich mit der Frage, unter welchen kommunikativen Voraussetzungen Kinder eine frühe Form des Selbstbezugs entwickeln können, die es ihnen erlaubt, sich selbst als Adressaten von Vorschriften zu begreifen. Diese Entwicklung bilde eine Art ontogenetischer Brücke von der Ebene des Psychischen zu derjenigen des Geistigen.
Kommt es in der Sache des Menschseins wirklich nur darauf an, zu einem mündigen Teilnehmer am allgemeinen Spiel der Regeln zu werden? Gehen erfolgreiche Individuen ganz in ihrer sozialen Kompetenz auf? Thomas Stark, Arzt und praktizierender Analytiker sowie ehemaliger Präsident des Freud-Instituts, wies im Gegenteil auf die unverzichtbare «Widerspenstigkeit des Subjekts» hin. Ihr komme in der individuellen wie kulturellen Entwicklung des Menschen eine hohe Bedeutung zu.
Brigitte Boothe, Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Universität Zürich und Initiatorin des IPF, berichtete in ihrem Vortrag über den spezifischen Sprachmodus, in dem Träume berichtet werden. Sie machte dabei auf die Bedeutung intrapsychischer Regulierungsvorgänge aufmerksam, die gemeinsam mit sozialen Regelphänomenen der Traummitteilung an der Entstehung des Traumberichts beteiligt sind.
Handeln wir Menschen aus Gründen oder sind es in Wahrheit Motive, die ursächlich hinter unserem Verhalten stehen? Zu dieser Frage kehrte Johannes Fischer, Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich, noch einmal zurück. Er versuchte zu zeigen, dass sich die Frage prinzipiell nicht entscheiden lässt. Der «Raum der Gründe» und die Ebene der Motive seien nicht aufeinander zu reduzieren.
In einem weiteren Referat sprach Carel van Schaik, Leiter des Anthropologischen Institutes der UZH, über den phylogenetischen Aspekt der «Kulturellen Evolution und des Ursprungs von sozialen Normen», eingehend studiert am Beispiel der Menschenaffen. Als biologischer Anthropologe brachte er dabei wichtige Gesichtspunkte ein. So sei die soziale Konformität des Individuums in den Gemeinschaften der Menschenaffen schlicht eine Lebensnotwendigkeit; das nonkonforme Verhalten nämlich bedeute den Ausschluss aus der Gemeinschaft und damit den Tod des Ausgeschlossenen.
Heiko Hausendorf schliesslich, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Zürich, beleuchtete das Phänomen der Normativität aus der befruchtenden Perspektive empirischer Gesprächsforschung.
Der Prorektor der Universität, Andreas Fischer, hatte die Tagung am Freitagmorgen mit einem Grusswort eingeleitet. Von Brigitte Boothe und Andreas Cremonini gemeinsam organisiert, fand sie das lebhafte Interesse und die rege Beteiligung der zahlreichen Hörerschaft.
Wie lassen sich die Ergebnisse zusammenfassen? Unter den philosophischen Referenten zeigte sich eindrücklicher Konsens, wie Andreas Cremonini in seinem Schlusswort betonen konnte. Auf die Annahme, dass Menschen auf der Basis von Gründen selbstbestimmt über ihr Handeln zu entscheiden vermögen, lasse sich angesichts solcher Übereinstimmung auch weiterhin nicht verzichten.
Aber auch an kritischen Stimmen hatte es nicht gefehlt. Insbesondere Brigitte Boothe liess in ihren Diskussionsbeiträgen immer wieder anklingen, dass sie das akademische Modell der zwanglosen Argumentation für nicht sonderlich wirklichkeitsnah halte, und rief unter anderen die Dichter Brecht und Tucholsky sowie den Philosophen Wittgenstein zu ihren Zeugen auf.