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Andreas Zangger lacht: «Schweizer Kolonialgeschichte, ja, die gibt es.» Der Historiker mit Forschungsschwerpunkt Wissenschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte des Kolonialismus hat sich an ein wahrhaft exotisches Thema herangemacht. Der Titels seiner Dissertation lautet: «Zu Gast im kolonialen Südostasien – Spielräume von Schweizer Migranten und Unternehmen auf Sumatra und in Singapur (1859 – 1949).»
Zanggers Feststellung überrascht: «Die Schweizer haben an der Ostküste Sumatras, beim grössten und erfolgreichsten Landwirtschaftsprojekt der Kolonialzeit, eine wichtige Rolle gespielt. Sie waren an der Schaltstelle zwischen Holländern und Briten.» Auf den Plantagen bauten die rund 1000 Auswanderer hauptsächlich Gummi und Tabak an, den sie dann teuer verkauften.
Den Historiker interessieren auch die Begegnungsarten zwischen den Einheimischen und den ersten Schweizer Globalisierungs-Pionieren. «Anhand dieses Stoffes lassen sich viele Aussagen über die Schweiz und ihre Wirtschaft machen und darüber, wie die Elite hier funktioniert hat.»
Die Schweiz war bereits damals das reichste Land der Welt: «Sie konnte flexibel reagieren, gerade weil sie selber keine Kolonien besass.» Diesen Sommer hat Zangger in den Kolonialarchiven Amsterdams nach weiteren Zeugnissen gesucht. Im letzten Winter war er für Recherchen auf Sumatra. «Mit diesem Projekt», sagt Zangger, «hat sich die Welt für mich ein Stück weit mehr aufgetan.»
Andreas Zangger ist einer von 15 Nachwuchsforschern, die am Universitären Forschungsschwerpunkt «Asien und Europa» arbeiten – dem jüngsten der sechs Forschungsbereiche, die die Universität Zürich besonders fördert. «In Zürich gibt es eine schweizweit einmalige Konzentration von wissenschaftlichen Kompetenzen im Bereich der Asien-Europa-Forschung », sagt der Islamwissenschaftler Ulrich Rudolph, der das akademische Grossprojekt leitet.
Um dieses Know-how besser zu vernetzen und ein Forum für die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu schaffen, wurde deshalb der interdisziplinäre Forschungsschwerpunkt ins Leben gerufen – ein Novum in der Schweiz. Mit vereinten Kräften nehmen die Wissenschaftler nun eine der weltweit dynamischsten Grossregionen in den Blick – von den Staaten der islamischen Welt bis zur künftigen Supermacht China.
Am interdisziplinären Forschungsschwerpunkt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Philosophischen, Theologischen, der Mathematisch-naturwissenschaftlichen und Rechtswissenschaftlichen Fakultäten beteiligt. Sie vertreten ein breites Spektrum von Fächern – von der Sinologie über die Ethnologie bis zu Religionswissenschaft, Geschichte und Geographie.
«Mit dem Forschungsschwerpunkt ‹Asien und Europa› wollen wir zur Verständigung und zum Dialog in der Wissenschaft, aber auch in der Gesellschaft beitragen », sagt die Geografin Ulrike Müller-Böker. Um die fächerübergreifende Diskussion zu fördern, werden deshalb interdisziplinäre Forschungskolloquien, Seminare und Tagungen durchgeführt. Zudem organisiert der UFSP «Asien und Europa» öffentliche Vorträge zu aktuellen Themen. So gaben etwa im letzten Wintersemester die iranische Soziologin Jaleh Shadi Talab und die indische Politikwissenschaftlerin Zoya Hasan Einblicke in die Situation von Frauen in ihren Heimatländern.
Neben der interdisziplinären Forschung und dem Dialog mit der Öffentlichkeit wird die Nachwuchsförderung besonders gross geschrieben. Ein Teil der Nachwuchsforscherinnen und -forscher hat selber Wurzeln in Asien. So etwa die türkischstämmige Juristin Mahide Aslan. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Frage, was mit einer Gesellschaft geschieht, deren Richter von einem Tag auf den anderen ein fremdes, aus einer anderen Kultur importiertes Gesetz anwenden sollen. Genau dies geschah in der Türkei. Nachdem 1922 die Republik ausgerufen wurde, ging man daran, das Rechts- und Justizwesen zu reorganisieren und führte 1926 eine leicht abgewandelte Fassung des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) ein.
«Die grösste Spannung erzeugte dies im Familienrecht, dem sozial sensibelsten Teilgebiet», sagt Mahide Aslan. Es bildet den Schwerpunkt ihrer Dissertation. Das Interesse der 28-jährigen Juristin und Assistentin am Institut für Juristische Grundlagen der Universität Luzern gilt hauptsächlich sozialen Fragen. Ein zentrales Beispiel dafür ist die Abschaffung der Bigamie, die gerade in der ländlichen Bevölkerung verbreitet war. Plötzlich stellten sich neue Probleme: Kinder aus solchen nicht zivilrechtlichen Beziehungen galten als illegal, hatten nicht mehr dieselben Rechte wie bis anhin.
Aslan wirft damit auch die Frage auf, ob andere, gewachsene Rechtssysteme nicht auch ihre Daseinsberechtigung haben, obwohl sie aus westlicher Perspektive irritieren. «In Westeuropa tun wir oft so, als hätten wir alles gelöst, obwohl wir das gerade beim Thema Bigamie nicht behaupten können», meint die Juristin.
Die Differenziertheit und Sensibilität, mit der sie an das Thema herangeht, mag mit ihrer Biographie zu tun haben. Mahide Aslan wurde als Tochter türkischer Eltern, die beide aus bäuerlichen Verhältnissen stammen und als Gastarbeiter in den 70er-Jahren eingewandert sind, in der Schweiz geboren und wuchs bis zum sechsten Lebensjahr bei schweizerischen Tageseltern auf. Mit ihrer Familie reiste sie später oft in die Türkei, bis sie 16 Jahre alt war. Heute, nach einer längeren Pause, hat sie einen neuen Kontakt zu den eigenen Wurzeln gefunden: «Ich begegne einer anderen Türkei, anderen Schichten. Es ist ein wahres Abenteuer!»