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Wenn Intelligenz zum Verhängnis wird

Mäuse zeigen im Labortest häufig intelligente Verhaltensweisen. Der Neuroanatom und Verhaltensforscher Hans-Peter Lipp erforscht seit Jahren das Verhalten von Mäusen und wollte es genau wissen: Bewährt sich diese Intelligenz auch im natürlichen Umfeld, im realen Mäuse-Leben?
Marita Fuchs

Prof. Hans-Peter Lipp mit der klugen Schwimmerin im Labor.

Bei Mäusen gibt es zahlreiche angeborene Unterschiede im Lernverhalten und Aufbau des Gehirns. So weisen manche längere Faserbündel, sogenannte Moosfasern, in einer Struktur auf, die beim Menschen das Gedächtnis kontrolliert.

Im Labor verblüfft eine solche Maus zum Beispiel durch ihr räumliches Orientierungsvermögen. In einem grossen Wasserbecken findet sie schnell eine verborgene rettende Plattform und merkt sich den Standort für die nächste Schwimmrunde. Wird die Plattform verschoben, sucht sie zunächst systematisch an der alten Stelle und begreift schnell, dass sie an einem neuen Ort ist.

Nur, was nützt dieser Maus ihre Klugheit ausserhalb der künstlichen Laborwelt? Wird sie sich bewähren und sich gegen nicht so kluge Mäuse mit kürzeren Moosfaserverbindungen durchsetzen? Der Neuroanatom Prof. Hans-Peter Lipp vom Anatomischen Institut wollte genau das herausfinden.

Freigehege für die Mäuse in der westrussischen Taiga.

Aussergewöhnliches Versuchsgelände

Hans-Peter Lipp verfügt über die einzigartige Möglichkeit, das Verhalten der genmanipulierten Mäuse auch im freien Feld zu überprüfen. In der abgeschiedenen westrussischen Taiga, 500 Kilometer von Moskau, etwa 35 Fahrstunden von Zürich entfernt und weit weg von jeglicher Zivilisation, hat er grosse Freigehege für Mäuse anlegen lassen.

Auf dem Gelände wurden auch einige Hütten für das histologische Labor und für die Forscher und Gäste gebaut. «In der Schweiz wäre so eine Anlage für mich nicht finanzierbar gewesen», erzählt Hans-Peter Lipp und muss im Nachhinein lächeln ob der kuriosen Entstehungsgeschichte des Freilandlabors.

Wo Bär und Eule sich gute Nacht sagen

Eine russische Mitarbeiterin hatte Lipp mit dem Bärenforscher Valentin Pazhetnov bekannt gemacht. Pazhetnov konnte in der Zeit der Perestroika eine ehemalige Kolchose pachten, auf deren Gelände er junge Bären aufziehen und beobachten wollte. Der ausgebildete Biologe Pazhetnov hatte nichts gegen ein Freilandgehege für Mäuse auf seinem Gelände und unterstützte Lipp nach Kräften.

Und da eine Hand die andere wäscht, half Lipp ihm mit Telefonkabeln aus. Als damaliger Chef des Brieftaubendienstes der Schweizer Armee hatte er die Kabel aus Restbeständen der Armee beziehen können und brachte sie auf abenteuerlicher Fahrt nach Russland. Der (Telefon-) Draht nach aussen war damit für beide Forscher gesichert.

Doch nicht alles konnte Lipp selbst finanzieren. Für die Mäusegehege und erste Pilotprojekte wurde Lipp vom damaligen Osthilfeprojekt der Universität Zürich unterstützt. In der Folge finanzierte auch der Nationalfonds und das SCOPES Programm (Scientific Cooperation with Eastern Countries) Projekte und Zusammenarbeit.

Hans-Peter Lipp (rechts) mit seinem Mitarbeiter Alexei Vyssotski vor dem Feldlabor.

Kluge Maus im Aus

Auf den naturbelassenen Flächen – so gross wie zwei Fussballfelder – wollte Lipp nun testen, ob die «klugen» Mäuse sich gegenüber den «dümmeren» Verwandten mit kürzeren Moosfaserverbindungen durchsetzen. Um die Mäuse auf dem grossen Gelände wiederzufinden, wurden ihnen Erkennungschips implantiert. Kameras und Sensoren überwachten die Tiere. Neben Moosfasermäusen wurden in manchen Gehegen auch genetisch modifizierte Mäuse freigesetzt.

«Wir haben Mäuse freigesetzt, die in den Verhaltenstests im Labor etwas besser und solche, die etwas schlechter abgeschnitten haben», sagt Lipp. «Im Freiland nützte ihnen die Intelligenz jedoch nichts. Nach einem Jahr waren die schlauen Mäuse verschwunden und – wie genetische Tests zeigten – es waren auch keine Nachkommen von ihnen vorhanden.»

Dass eher neugierige, aber auch zögerliche Verhalten der klugen Mäuse hat sich in der Wildnis nicht bewährt. «In der Laborsituation ist die schnelle Reaktionsbereitschaft, die in der freien Natur überlebensnotwendig ist, oft gar nicht gefragt, da man im Labor mit solchen – schreckhaften – Mäusen nicht gut arbeiten kann.»

In den Freigehegen ist es im Winter bis zu 30 Grad kalt, ein Härtetest für die Mäuse.

Überlegen verkürzt das Leben

Ähnliches geschah bei den Moosfasermäusen, bei denen die Klugen über die Jahre verdrängt wurden. Die eher «dummen» Mäuse mit den kurzen Moosfaserverbindungen dagegen konnten ihren Nachwuchs sichern, da sie entweder sehr schnell und manchmal auch aggressiv reagierten oder aber sehr ängstlich waren. «Die Dummen, Aggressiven und die sehr Furchtsamen setzen sich durch; Klugheit ist nicht die Münze der Evolution», folgert Lipp.

Bei den klugen Mäusen, die neugierig aber auch zögerlich waren, kam noch hinzu, dass sie zuweilen bereit waren, sich eine Gefahrenquelle genauer anzusehen, anstatt zu kämpfen oder wegzurennen. «Die Eule war dann schneller. Bei Gefahr zu zaudern kann sich eine Maus nicht leisten», meint Lipp.

Er warnt jedoch davor, solche Befunde auf das menschliche Verhalten zu übertragen. Die Möglichkeiten des grossen Gehirns fehlten der Maus, der Mensch profitiere davon, wenn er die Gefahren genauer betrachte, für die Maus könne es dann schon zu spät sein.

Genetisches Survival Kit

Hans-Peter Lipp setzt für zukünftige Forschungsprojekte weiter auf die Maus. Das Erbgut der kleinen Nager ist nämlich nahezu vollständig entziffert. Die Maus ist sein bevorzugtes Forschungsobjekt, weil sie weitgehende Parallelen zu Anatomie, Körperbau, Stoffwechsel und Genetik des Menschen aufweist.

«Mit einem neuen, allerdings sehr teuren Verfahren, dem P454-Mapping, wäre es möglich, das Genom eines Individuums mit dem eines anderen zu vergleichen», sagt Lipp. Gerne würde er in Zukunft kälte- und krankheitsresistente Gene erforschen, sogenannte Survival-Gene. Dazu böte das russische Freigehege eine gute Ausgangsbasis.

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