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Im südafrikanischen Blouberg-Naturschutzgebiet bricht der Tag an. Eine Gruppe Paviane, ein Männchen, acht Weibchen und etwa ein Dutzend Jungtiere, verlässt ihren sicheren Schlafplatz auf einem Felsen und geht auf Nahrungssuche. Obwohl der Weg durch die trockene Waldsavanne an essbaren Samen vorbeiführt, hält die Gruppe nicht an. Zielstrebig steuert sie einen weit entfernten, ausserhalb der Sichtweite liegenden Feigenbaum an, der eine hochwertige Mahlzeit aus reifen Früchten verspricht. Plötzlich bricht unter den Tieren Panik aus, als hinter einer Wegbiegung eine rastende Paviangruppe in Sicht kommt. Die Aufregung legt sich allmählich, die Gruppe entschliesst sich ebenfalls zur Rast und wartet, bis der Weg wieder frei ist.
Das Warten kostet Zeit. Erst nach einer Stunde entfernen sich die Artgenossen, sodass die Gruppe weiterziehen kann. Am Ziel angelangt, finden die Tiere nur noch wenige reife Feigen am Baum. Irgendein Nahrungskonkurrent war früher da. Die Paviane setzen ihren Weg zu einem nahe gelegenen Wasserloch fort. Am Nachmittag kehren sie in die Nähe ihres Schlafplatzes zurück und fressen die Samen, die sie am Morgen noch unberührt liessen.
Die Primatenforscherin Rahel Noser vom Anthropologischen Institut und Museum der Universität Zürich hat in einem vom Fonds zur Förderung des akademischen Nachwuchses (FAN) unterstützten Dissertationsprojekt sechzehn Monate lang die Wege kartiert, die eine Gruppe Bärenpaviane während der täglichen Nahrungssuche zurücklegt. Mit einem GPS-Gerät ist sie den Tieren gefolgt und hat alle fünf Minuten deren genaue Position festgehalten. Bevor sie mit den Aufzeichnungen überhaupt beginnen konnte, mussten sich die Tiere an die neue Begleitung gewöhnen. Allein diese Angewöhnungsphase dauerte acht Monate.
Die Forschungsresultate der Wissenschafterin liefern erstaunliche Einsichten in die kognitiven Fähigkeiten der Paviane. So durchstreifen sie nicht planlos ihr Revier, um zufällig gefundene Früchte und Samen zu verzehren. Vielmehr bestimmen die Tiere ihre Route im Voraus und suchen erst einmal Orte auf, die seltene, aber hochwertigere Nahrung bieten. Im weiteren Verlauf des Tages nehmen sie dann auch Kost zu sich, die in ihrem Streifgebiet häufiger vorkommt und qualitativ schlechter ist.
Diese Strategie ist wegen der harten Konkurrenz überlebenswichtig, da in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft schätzungsweise 500 Paviane in acht weiteren Gruppen leben. So kann es durchaus vorkommen, dass die Tiere in der Frühe auf das übliche Ritual der gegenseitigen Fellpflege verzichten und sich noch in der Morgendämmerung in schnellem Tempo auf den Weg machen, wenn am Ziel besonders begehrte Früchte warten.
Spannend ist die Frage, wie die Paviane den Weg zu den einzelnen Futterplätzen und Wasserlöchern finden können. Im flachen, waldigen Teil des Naturschutzgebietes ist die Sicht oftmals auf unter hundert Meter beschränkt, sodass die Tiere einen ausgeprägten Orientierungssinn benötigen, um drei bis vier Kilometer entfernte Ziele zu finden. Rahel Noser und Richard Byrne, Professor für Evolutionäre Psychologie an der schottischen Universität St Andrews, gehen davon aus, dass die Paviane ein detailliertes räumliches Vorstellungsvermögen haben. Mit Hilfe eines sogenannten Netzwerkplans merken sie sich wichtige Informationen über ihr Streifgebiet wie Zielorte und Sequenzen von Landmarken.
Dank dieser mentalen Repräsentation des Raumes verfügen sie über eine Vielzahl von Wegen, die zu Nahrungsquellen auch ausserhalb des Blickfeldes führen. Indem sich die Wege in ihrer Vorstellung auch überkreuzen, können die Paviane auf verschiedenen Routen ans Ziel gelangen. Am Netzwerkplan halten sie strikt fest, ein Sachverhalt, den Rahel Noser anschaulich beschreibt: «Die Paviane laufen bekannte Wege ab. Alles andere ist für sie terra incognita, die für sie höchstwahrscheinlich nichts bedeutet.»
Dies würde auch das wunderliche Verhalten der Paviane erklären, wenn sie auf Artgenossen treffen. Sie umgehen eine andere Gruppe nur dann, wenn sie auf dem Umweg die gewohnte Strecke nicht aus den Augen verlieren. Sobald sie einen bekannten Weg zu weit verlassen, droht ihnen nämlich die Gefahr, sich zu verlaufen. Deswegen ist es für sie günstiger zu warten, bis sie ungehindert weiterziehen können, obwohl gerade in der trockenen Saison wertvolle Zeit für die Futtersuche verloren geht.
Für die Orientierung an einem mentalen Netzwerkplan spricht zudem, dass Paviane bei der Begegnung mit Artgenossen ab und zu denselben Weg zurückgehen, auf dem sie gekommen sind. Sobald sie eine Wegkreuzung erreicht haben, nehmen sie dort eine alternative Strecke oder entscheiden sich für ein neues Ziel. Für die Paviane scheint es somit die sicherste Methode zu sein, «ausgetrampelte Pfade» nicht zu verlassen.