Navigation auf uzh.ch
Wie soll man etwas beschreiben, für das sämtliche Begriffe fehlen? Das so neu und unerhört ist, dass es ausserhalb die vertrauten Wahrnehmungskategorien und Verständnissysteme fällt? Man macht sich am besten ein Bild davon. So taten es auch die Entdecker, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals in das unerforschte Innere Brasiliens vordrangen. Und dabei auf Menschen stiessen, deren Anblick und Sitten gar eigenartig anmuteten. Ihre Beobachtungen hielten die Reisenden unmittelbar fest, mit Zeichenstift und Pinsel, später auch mit der Fotokamera. Wieder zurück in Europa, wurde das visuelle Rohmaterial für die Veröffentlichung aufbereitet: als reproduzierbarer Kupferstich, als pittoreske Wandtapete für die Bürgerstube oder als raffinierte Fotomontage für den Unterricht.
Beatrice Kümin hat diese Bilder während Jahren gesammelt. Nun legt sie sie in einer Ausstellung und einer umfassenden Publikation vor. Das Hauptaugenmerk legt die Konservatorin am Völkerkundemuseum der Universität Zürich auf Materialien aus dem Brasilien des 19. Jahrhunderts. Dies deswegen, weil die Bildproduktion damals sprungartig anstieg – Portugal öffnete die lange verschlossenen Grenzen seiner Kolonie. Aber auch die Vielfalt der Medien nahm zu: Die Fotografie bot sich plötzlich als Dokumentationsmittel an, das alles bisher Dagewesene an Detailtreue und Wahrhaftigkeit zu übertreffen schien. Die Druckverfahren machten qualitative Fortschritte, und die illusionistische Kraft neuer Technologien wie der Stereofotografie erweckte gar den Eindruck tatsächlicher Präsenz.
Den Bildern erwuchsen daraus teils abenteuerliche Karrieren. Sie wurden kopiert und umgestaltet. Die dabei erfolgten Umwandlungsprozesse – vom Original zum veröffentlichten Bild – stehen im Mittelpunkt der Ausstellung. Die Schau setzt ein mit einer Serie von Illustrationen, die auf einer der ersten Expeditionen zwischen 1783 und 1793 entstanden. Sachlich und nüchtern zeigen die Aquarelle Waffen und Geräte, Körperverzierungen und Schmuck der Eingeborenen vor neutralem Hintergrund. Als die Bilder Jahre später für den Druck aufbereitet wurden, setzte man die Indianer vor eine fiktive Landschaft – und folgte damit nicht nur kunstästhetischen Konventionen, sondern erhöhte zugleich den Eindruck von Authentizität.
Andere Bilder haben buchstäblich Jahrhunderte alte Biografien: Zeigt die ursprüngliche Quelle von 1812 eine Gruppe verhalten tanzender Indianer, so stellt die 22 Jahre spätere Umarbeitung einen wilden, von Trommeln begleiteten Tanz dar, wobei drei der Akteure plötzlich weiblich sind. Schliesslich sollte Le Corbusier hundert Jahre später, 1928, auf die Lithografie stossen. Und siehe da, unter der Hand des Architekten und Künstlers verwandelte sich die Vorlage in einen erotischen Tanz wohlgeformter Frauen. Solche Abstammungslinien zu eruieren, sei eine langwierige Arbeit, die der des Detektivs gleiche, sagt Kuratorin Beatrice Kümin.
Die Ausstellung schliesst mit einem Kapitel zur Fotografie. Ihre Vorzüge – Geschwindigkeit und vermeintliche Objektivität – verlockten schon bald nach ihrer Erfindung 1839 dazu, die Völker der Welt in enzyklopädischer Breite zu erfassen. Bei der Auswahl der Modelle wurde besonders Wert auf ein typisches Erscheinungsbild gelegt. Eine ideologische Steigerung erfuhr diese Typenfotografie Ende des 19. Jahrhunderts durch ein sozialdarwinistisch geprägtes Rassedenken. Dabei wurden die Modelle in strenger Frontal- und Profilansicht abgelichtet, in der Regel neben einem Metermass, das die nachträgliche akribische Vermessung zuliess – und damit die Bestimmung der Stellung einer ethnischen Gruppe innerhalb der Entwicklungslinie des Menschen.
Die Ausstellung gibt nicht nur einen spannenden Einblick in die untergegangene Welt brasilianischer Ureinwohner. Ebenso macht sie mit der Produktionsweise von Bildern vertraut und ihrer ambivalenten Stellung zwischen Wissenschaft und Kunst. Von den Malern verlangte diese Wechselbeziehung ein doppeltes Kunststück: Sie mussten Authentizität und Imaginationskraft, Faktentreue und Exotik, Wahrhaftigkeit und Marktgängigkeit miteinander in Einklang bringen. Die Resultate bieten viel Schaulust und Kurzweil – und die Einsicht, dass ein Bild tatsächlich mehr als tausend Worte sagt. Zumindest dann, wenn es nicht alleine steht.