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Sadiq al-Azm: Ich lebe in Damaskus und Beirut. Wenn es in Damaskus unruhig ist, gehe ich nach Beirut. «Die Erklärung der Tausend» ist nur ein Manifest von mehreren, mit denen wir politische Forderungen ans Regime formuliert haben. Angefangen hat es 1999 während des «Frühlings von Damaskus» mit der «Charta 1999», die den Anfang der Zivilgesellschafts-Bewegung in Syrien markiert. Das letzte war die Damaskus-Beirut- Deklaration im Frühling 2006. Das Regime war sehr verärgert über diese Deklaration – aus verschiedenen Gründen. Einerseits, weil wir darin die Forderungen der Libanesen aufgenommen haben, die Beziehungen der beiden Länder zu bereinigen, andererseits wird das Regime sehr nervös, wenn syrische Intellektuelle und Aktivisten ausserhalb Syriens zusammenarbeiten.
Sadiq al-Azm: Mindestens 14 der rund 300 Unterzeichner wurden festgenommen. Ich war zu dieser Zeit als Dozent in Princeton. Ich weiss nicht, was mir passiert wäre, wenn ich in Damaskus gewesen wäre. Die meisten der Verhafteten wurden wieder freigelassen. Aber mindestens zwei von ihnen sitzen immer noch im Gefängnis und ihnen wird der Prozess gemacht.
Sadiq al-Azm: Wenn Sie mit Fundamentalisten die kleinen bewaffneten Banden meinen, die mit Slogans wie «der Islam ist die Lösung» oder «die Sharia muss wieder eingeführt werden» etc. hantieren, dann sind sie keine wichtige Opposition. Diese so genannten Dschihad-Islamisten haben kein seriöses politisches Programm, das diskutiert werden könnte. Sie haben der Gesellschaft und der traditionellen Politik den Rücken gekehrt. Die einzige Strategie, die ihnen geblieben ist, ist der direkte Angriff auf den politischen Gegner – so extravagant und spektakulär wie möglich. Diese Dschihadisten werden unterdrückt und verfolgt und haben den Kampf gegen die Regime in Algerien, Ägypten und Syrien verloren.
Doch es gibt andere oppositionelle islamistische Bewegungen wie die Muslim-Brüder, die politische Programme haben, Allianzen schmieden und so versuchen, politischen Druck auf die Regimes auszuüben. Das heisst, sie versuchen, einen friedlichen Wandel herbeizuführen. Damit mögen sie nicht sofort Erfolg haben, aber es scheint der bessere Weg zu sein, um etwas zu erreichen als jener der Dschihadisten.
Sadiq al-Azm: Die grösste Kraft sind nicht die traditionellen politische Parteien, sondern im Fall von Syrien die Handelskammern und Geschäftsleute. Sie sind die Juniorpartner in einem militärisch-wirtschaftlichen Verbund, der das Land regiert. Das Kräfteverhältnis zwischen dem Militär und den einflussreichen Geschäftsleuten verändert sich ständig. Ich glaube, dass die wirtschaftlich erstarkende Mittelschicht jene Gruppe sein wird, die die besten Chancen hat, in Zukunft nicht nur Druck auf die Regierung auszuüben, sondern auch an der Macht beteiligt zu sein.
Sadiq al-Azm: Die Türkei ist in jüngster Zeit zu einem Vorbild für die arabische Welt geworden. Das war nicht immer so: zwischen Syrien und der Türkei konzentrieren sich traditionellerweise die Animositäten zwischen den Arabern und den Türken. Während des Kalten Krieges war die Türkei in Syrien unbeliebt, weil sie zur Nato gehörte, gegen die Sowjetunion war, Beziehungen zu Israel unterhielt und sich nicht an der Dritte-Welt-Bewegung beteiligte.
Heute verteidigt die syrische Linke Werte wie Säkularismus, die Menschenrechte, die zivilen Freiheiten, eine freie Presse, Meinungsäusserungsfreiheit und so weiter. Sie schaut sich um, und das einzige Land,in dem diese Dinge in einer muslimischen Gesellschaft sagen wir zu 70 Prozent verwirklicht sind, ist die Türkei.
Für die syrischen Islamisten kam noch hinzu, dass Atatürk das Kalifat abgeschafft und den Staat säkularisiert hatte. Doch auch die Islamisten haben ihre Meinung geändert, weil sie gesehen haben, wie es der politische Islam in der Türkei geschafft hat, sich in eine politische Kraft zu transformieren, der es gelang, die Macht zu übernehmen, ohne das Land ins Chaos zu stürzen.
In Syrien versucht der Führer der Muslimbrüder seine Organisation nach dem türkischen Vorbild neu zu organisieren. Das neue Programm, das die Muslimbrüder entwickelt haben, erwähnt frühere Forderungen wie etwa die Wiederherstellung des Kalifats oder die Einführung der Sharia nicht mehr. Stattdessen verlangen sie freie Wahlen, Demokratie, Meinungsäusserungsfreiheit, die Respektierung der Menschenrechte und so weiter. Das heisst nicht, dass ich ihnen glaube. Aber es ist eine wichtige politische Entwicklung. Ohne das türkische Beispiel wäre so etwas nicht möglich gewesen.
Es ist deshalb sehr wichtig, dass die Europäische Union der Türkei hilft, diesen Prozess fortzusetzen und dieses Experiment zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Wir brauchen eine muslimische Gesellschaft mit einem funktionierenden demokratischen System als Vorbild. Die Türkei ist das einzige Gegenbeispiel einer islamistischen Regierung zum Taliban-Islam.
Sadiq al-Azm: Ich unterscheide zwischen dem historischen und dem dogmatischen Islam. Der historisch-empirische Islam passt sich ständig neuen Bedingungen an. Seit den frühen 1980-Jahren hat sich in Syrien langsam ein Konsens gebildet. Heute haben wir eine gewisse Respektierung der Menschenrechte, ein gewisses Mass an Demokratie, die Regierung muss Rechenschaft über ihr Tun ablegen und so weiter. Aber man darf da noch nicht zu viel erwarten.
Der dogmatische Islam hinkt dieser Entwicklung hinterher. Seit Beginn der 1970er-Jahre wird der dogmatische Islam von den Fundamentalisten als das Programm für die Zukunft angepriesen. Natürlich kollidiert diese Sichtweise mit dem empirisch-historischen Islam der praktiziert wurde. Es gibt immer wieder Versuche, den dogmatischen Islam zu reformieren.
Sadiq al-Azm: Oh ja, vor allem in der Mittelklasse, weil diese Formen des reformierten Islam es dieser Schicht ermöglichen, ihren Lebensstil beizubehalten und gleichzeitig gute Muslime zu sein. Das ist auch in der Auseinandersetzung mit den Dschihadisten sehr wichtig.
Sadiq al-Azm: Ich glaube, dass sich schliesslich der Islam der Mittelklasse durchsetzen wird – ein moderater Islam.
Sadiq al-Azm: Es gibt zwei Orte, wo alles schief läuft: In Palästina und im Irak. Palästina ist ein alter Konflikt. Wenn es in Palästina keine befriedigende Lösung für die Palästinenser gibt, wird dieser Konflikt weiter gehen. Die Amerikaner können ihre momentane Politik, die Sache einfach den Israelis und den Palästinensern zu überlassen, nicht fortsetzen. Denn das Kräfteungleichgewicht ist zwischen den beiden Parteien so gross, dass es so zu keiner fairen und dauerhaften Lösung kommen kann.
Im Irak wäre ein überstürzter Abzug der Amerikaner ein Desaster. Im Moment scheint es für den Irak keine gute Lösung zu geben. Ich vergleiche das mit dem Bürgerkrieg im Libanon, wo sich die Parteien erst einigen konnten, als sie vollkommen erschöpft waren. Im Irak sind die Schiiten und die Sunniten noch dabei, die Kräfte der Gegenseite zu testen. Mit oder ohne die Amerikaner wird der Bürgerkrieg deshalb weiter gehen.
Sadiq al-Azm: Im Moment glaube ich, dass die USA den Iran angreifen könnten. Der Iran hat sich in letzter Zeit kriegerischer und provokativer gebärdet. Und ich habe das Gefühl, dass sich die Iraner übernehmen.
Sadiq al-Azm: Ich wünsche mir natürlich nicht, dass die Amerikaner irgendein Land bombardieren. Aber eine Schwächung des Mullah-Regimes im Iran würde ich begrüssen, weil dadurch andere Kräfte im Land Auftrieb erhalten würden. Sie könnten das Land aus der schwierigen Lage führen, in die es durch die rücksichtlosen Politiker, die im Moment an der Macht sind, geführt wurde.