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«Wir wollen ergründen, wie das Gehirn funktioniert», bringt Kevan Martin sein langjähriges Forschungsinteresse auf den Punkt. Vor sechs bis sieben Millionen Jahren, so der Zürcher Professor für System-Neurophysiologie, setzte unser Gehirn zu einem regelrechten Entwicklungs-«Sprung» an: Innert drei Millionen Jahren verdreifachte es seine Grösse. Davon profitierte zur Hauptsache der Neocortex, der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Grosshirnrinde.
Und auf diese Erfolgsgeschichte haben die Forscherinnen und Forscher des Instituts für Neuroinformatik (INI) von ETH und Universität Zürich ihr Interesse fokussiert. «Der Neocortex macht uns weitgehend zu dem, was wir unter 'Menschsein' verstehen», erläutert Kevan Martin. «Dort sind die Sprache, das Erinnerungs-, Urteils- und Planungsvermögen sowie psychische Prozesse lokalisiert. Doch so grundlegend für unser Leben diese Schaltzentrale auch ist: In Bezug auf ihr Funktionieren tappen wir noch weitgehend im Dunkeln.»
Am INI wird nun auf Systemebene an der Aufhellung dieses Dunkels gearbeitet, unter anderem eingebettet in den Nationalen Forschungsschwerpunkt «Plastizität und Reparatur des Nervensystems». Dies in der Hoffnung, langfristig zur Behandlung von unfallbedingten Hirnschädigungen oder Krankheiten wie Schizophrenie oder Depression beizutragen. Ausserdem wird am INI auch an der Simulation von Gehirnfunktionen gearbeitet. So entsteht hier zum Beispiel ein Roboterarm, der via Gedanken gesteuert werden kann. Die Leitfragen lauten: Wie arbeiten die verschiedenen Regionen, wie sind sie vernetzt? Und wie kommt es zur Übermittlung von Befehlen?
Einerseits werden die Studien an Versuchspersonen durchgeführt. Andererseits braucht es aber auch invasive Experimente, für die nur Tiere in Frage kommen. «Wir setzen Makaken, Katzen und Ratten ein, um zum Beispiel das Zusammenspiel zwischen dem sensorischen und motorischen System oder funktionale Prinzipien im Sehzentrum zu bestimmen», sagt Daniel Kiper, Privatdozent am INI. Mensch und Tier lassen sich dabei natürlich nicht eins zu eins vergleichen. «Dennoch gibt es bei den fundamentalen neurobiologischen Prozessen im Neocortex aufschlussreiche Parallelen», meint Kiper.
Die Teams am INI messen die Gehirnaktivität der Tiere mittels diverser Tests. Zum Teil wird mit feinen Sonden die elektrische Aktivität der Zellen in der Hirnrinde gemessen. «Ich verstehe, dass solche Messungen den Betrachter befremden. Man muss aber wissen, dass damit keine Schmerzen verbunden sind, denn das Gehirn enthält keine Schmerzrezeptoren», so Kevan Martin. Allerdings ist festzuhalten, dass das Tier am Ende eines solchen Experiments sein Leben lassen muss: «Darauf können wir leider nicht verzichten», meint Martin. «Die Untersuchung der Anatomie unter dem Mikroskop liefert zentrale Informationen über die Signalwege der Nervenbahnen. Diese werden mit Kontrastmitteln sichtbar gemacht.»
Für die Fortsetzung der Projekte forderte die kantonale Tierversuchskommission Anfang 2006 wiederholt neue Entscheidungsgrundlagen ein, unter anderem drei externe Gutachten durch von der Kommission benannte Fachleute. «Zwei von drei Gutachten kamen zu klar positiven Beurteilungen», sagt Kevan Martin. Trotzdem hat die Kommission im vergangenen November die Makaken-Versuche durch Rekurse gegen die inzwischen von der Kantonstierärztin erteilten Fortsetzungsbewilligungen unvermittelt gestoppt. «Nature» berichtete damals über den Fall.
Die Begründung der Tierversuchskommission: Die Experimente würden die Würde der Kreatur verletzen; dies mit Verweis auf das revidierte Schweizer Tierschutzgesetz, das wohl 2008 in Kraft tritt. Darin wird bestimmt, dass die Würde des Tieres zu schützen sei. Hans Sigg, Tierschutzbeauftragter von Universität und ETH ergänzt dazu: «Der Begriff 'Würde' wird durch die Rekurrenten wesentlich weiter interpretiert, als es die Definition im Tierschutzgesetz vorgibt.»
Zudem befand die Zürcher Kommission, dass die erhofften wissenschaftlichen Resultate die Belastung, der die Tiere ausgesetzt sind, nicht rechtfertigen. Ausserdem gebiete die grosse Ähnlichkeit der Primaten mit dem Menschen, sie bei Versuchen mit grösster Zurückhaltung zu behandeln. Am INI löste dieser Vorgang Erstaunen aus, weil die langfristig angelegten Studien während eines Jahrzehnts stets bewilligt wurden, die halbjährlichen Kontrollen der Affenhaltung nie zu Beanstandungen geführt haben und am INI die ethischen Richtlinien strikte eingehalten werden.
Nun aber stellt das problematische Argument der «Würde der Kreatur» den Forschern eine nur schwer zu überwindende Hürde. Kevan Martin: «Was 'Würde' ist und wann sie verletzt wird, kann fast beliebig gedeutet werden. Verschiedene Ethikkommissionen haben sich in der Vergangenheit mit dem schwierigen Begriff befasst, jedoch in keinem Fall einen Konsens gefunden. Gleichzeitig verweigert sich die Tierversuchskommission einer Diskussion. Auch von der Möglichkeit, unsere Versuche vor Ort eingehend zu prüfen, hat sie nie Gebrauch gemacht.»
Die Kommission werte die Grundlagenforschung geringer als die angewandete Forschung im medizinischen Bereich, weshalb für Tierversuche wie am INI die Latte höher liege. Dazu sagt Martin: «Wer Basis- und anwendbares Wissen aufteilt, verkennt, dass beides untrennbar zusammenhängt. Jede erfolgreiche Therapie ist die Spitze eines Eisbergs, der primär aus Grundlagenforschung besteht.»
Die Kommission monierte zudem, dass die Tiere mit Wasserentzug und Apfelsaftbelohnung zu Dingen gezwungen würden, die sie freiwillig nicht täten. Das sei haltlos, meint dazu Daniel Kiper. Mit Belohnungsstrategien würde auch jede Dressur, etwa mit Hunden, arbeiten. Wie aber geht das INI mit dem Leiden der Tiere um? «Wir vermeiden, dass die Tiere leiden, wo immer es geht», betont der Forscher. «Sie werden fürsorglich gepflegt, ein partnerschaftliches Verhältnis mit ihnen ist für uns selbstverständlich – auch im eigenen Interesse. Schliesslich müssen die Tiere kooperieren, wenn ein Versuch gelingen soll.» Das Einschläfern der Tiere am Versuchsende geschehe schmerz- und stressfrei, versichert Kevan Martin.
Und in Bezug auf die Infrastruktur lägen ETH und Universität Zürich ohnehin weit über dem weltweiten Standard. Die Makaken auf dem Gelände der Universität auf dem Irchel leben in Gruppen in grossen reichhaltig ausgestatteten und auch ins Freie führenden Gehegen. Würden die INI-Affenversuche in Grossbritannien durchgeführt, wo mit die strengsten Tierschutznormen überhaupt gelten, gäbe es keinen Grund zur Beanstandung. Umso sorgenvoller verfolge die internationale Forschergemeinde jetzt, was in Zürich passiert.
Wie stellen sich die Zürcher Forscher schliesslich zum häufig vorgebrachten Einwand, dass der Fortschritt in Forschung und Methodik es heute doch erlaube, auf belastende Tierversuche zu verzichten? «Ein gewisser Erkenntnisstand kann zwar über Simulation am Computer, über nicht-invasives Messen von Hirnströmen oder über das Studium von Zellkulturen erreicht werden», sagt Daniel Kiper. «Diese Methoden haben aber strikte Limiten.» Bei einem EEG zum Beispiel sei nicht klar, woher die Impulse wirklich kommen. Und weiter: «Ein Kubikmillimeter des Neocortex enthält 50'000 Nervenzellen und weist eine 'Verdrahtung' von vier Kilometern auf. Was dort exakt vorgeht, kann bis heute und noch für lange Zeit kein Computer simulieren.» Um eine ganzheitliche Vorstellung der corticalen Funktionen zu erhalten, seien Tierversuche in geringem, sehr kontrolliertem Mass nötig.
Der Rekurs der Tierversuchskommission liegt seit November 2006 bei der Zürcher Gesundheitsdirektion. Bis zu deren Entscheid liegt dieser Forschungszweig am Institut brach. Was passiert, wenn die Zürcher Regierung das Veto der Tierschutzkommission stützt? Kevan Martin: «Dann sehe ich schwarz für die Neocortex-Forschung in Zürich. Es würde zu einem Exodus kommen.»