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Im Jahr 2002 untersuchten rumänische Speläologen in der Nähe der alten Universitätsstadt Cluj ein ausgedehntes und weitverzweigtes Karsthöhlensystem. Nach einem Tauchgang ins Ungewisse durch einen langen, schmalen Siphon betraten die Taucher eine perfekte Zeitkapsel: im Höhlendom, der sich vor ihnen öffnete, lag eine vollkommen unberührte Ansammlung von tausenden von Knochen, die praktisch alle von Höhlenbären stammten, die während ihrer Winterruhe sanft dahingedämmert waren. Sinngemäss wurde die Höhlenformation «Pestera cu Oase» – Knochenhöhle – getauft.
Inmitten dieses eiszeitlichen Friedhofs, dessen Entstehung Jahrtausende gedauert haben musste, lag eine anthropologische Sensation: ein unverkennbar menschlicher Unterkiefer. Die direkte Datierung dieses Fundes mit der Radiokarbon-Methode ergab ein Alter von etwa 40'000 Jahren. Ausgedehnte speläologisch-archäologische Arbeiten brachten etwa vierzig weitere menschliche Knochenfragmente zum Vorschein, die alle zum Schädel eines weiteren Individuums gehörten. Die anthropologische Untersuchung und Rekonstruktion dieses Fundes erfolgte in einem internationalen Team. Dabei reisten nicht nur die beteiligten Forscher zum Schädel, sondern auch der Schädel, u.a. in die Schweiz – zuerst zum Computertomographen ans Kantonsspital Winterthur, dann auch als dreidimensionaler Datensatz ans Anthropologische Institut der Universität Zürich, wo er einer eingehenden Analyse unterzogen und virtuell rekonstruiert wurde.
Bei den menschlichen Fossilien von Pestera cu Oase handelt es sich um die bisher ältesten und besterhaltenen europäischen Vertreter unserer eigenen Art, Homo sapiens. Dies lässt sich aus vielen Details ihrer Anatomie schliessen, die die Fossilien klar von den damals in Europa lebenden Neandertalern unterscheiden. Solche Details finden sich z.B. im Mittel- und Innenohr, wo sämtliche Knochenstrukturen samt der millimeterkleinen Gehörknöchelchen perfekt erhalten geblieben sind. Allerdings unterscheiden sich die Oase-Individuen recht deutlich von allen heute lebenden Menschen. Sie repräsentieren somit einen Bereich des menschlichen Variationsspektrums, den es heute nicht mehr gibt. Die Kombination eines grossen Gesichts und massiver Zähne mit einem grazil gebauten Hirnschädel ist einzigartig und aus heutiger Perspektive vollkommen unerwartet. Aber genau diese unerwartete Morphologie gibt den besten Einblick in das Wirken von evolutiven Kräften auch auf den Menschen.
Homo sapiens ist vor etwa 150'000 Jahren in Afrika entstanden, etwas später findet man ihn im Nahen Osten, und vor bereits 50'000 Jahren in Asien und Australien. Die Zeit vor etwa 40'000 Jahren ist für die Besiedlungsgeschichte von Europa besonders interessant. Erst damals, am Beginn der letzten Eiszeit, tauchten die ersten Vertreter von Homo sapiens in Europa auf, das seit mehr als hunderttausend Jahren ausschliesslich von der anderen damals lebenden Menschenart, dem Neandertaler (Homo neanderthalensis) besiedelt war. Bereits 15'000 Jahre – also 500 Generationen – später sind die Neandertaler vollständig ausgestorben. Was ist damals vorgegangen? Wie haben die zwei Menschenarten, die im Nahen Osten offensichtlich über zehntausende von Jahren koexistierten, in Europa interagiert? Die Morphologie der Oase-Individuen spricht eine deutliche Sprache: die Nachkommen afrikanischer Auswanderer haben sich auch in Europa innert relativ kurzer Zeit etabliert, und falls es zu einer Vermischung mit der ansässigen Neandertaler-Urbevölkerung gekommen war, blieb sie ohne nachweisbare Folgen.