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Wenn in Namaqualand im Westen Südafrikas eine kleine Striemengrasmaus auf die Welt kommt, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie neben ihren Eltern und Geschwistern das Gesicht eines Verhaltensbiologen erblickt. Seit 2001 betreibt der ausgebildete Zoologe Dr. Carsten Schradin in dieser vielfältigen Halbwüstenlandschaft eine Forschungsstation, wo Verhaltensbiologen aller Nationen unter optimalen Bedingungen das Leben der kleinen Säugetiere in der natürlichen Umgebung beobachten können. «Die Tiere haben sich an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt», erzählt der Forscher, «so können wir ihr Sozialleben studieren, ohne sie zu stören.»
Und das Sozialleben der Striemengrasmaus ist in der Tat bemerkenswert. Mittlerweile weiss man ja, dass es auch in der Tierwelt alle möglichen und unmöglichen Lebensentwürfte gibt – von «schwangeren» Seepferdchen über promiske Schimpansen bis zu monogamen Schwänen –, aber dass ein Säugetier die ganze Palette sozialer Interaktionen in sich vereint, das ist doch sehr selten. Carsten Schradin kennt neben der Striemengrasmaus kein anderes Tier, das derart flexibel sein soziales Leben an sich ändernde Umweltbedingungen anpasst. Darin ist sie dem Menschen sehr ähnlich.
Insbesondere die Männchen der Striemengrasmaus überraschen mit ihrem väterlich-fürsorglichen Verhalten. Kommt im Frühling (das bedeutet für Südafrika: im September) der Nachwuchs zur Welt, ist es nicht selten der Mausvater, der für eine «gute Atmosphäre» in der Familie sorgt. Während die Mutter mit ihren adoleszenten Jungen ausschwärmt, um geschäftig nach Nahrung zu suchen, kümmert sich der Vater liebevoll um die Babies: er wärmt die Kleinen im Nest mit seinem Körper und putzt ihr Fell; verlässt er das Nest, begrüsst er den Nachwuchs bei seiner Rückkehr freundlich; und geht die Sonne des Abends unter, verkriecht sich die Grossfamilie zusammen im Nest, um sich gegenseitig beim Schlafen zu wärmen. So kann man bei den Striemengrasmäusen die erstaunliche Beobachtung machen, dass die Zuchtmännchen nicht einfach die «schnellen Samenspender» sind, sondern die sozialsten in der Gruppe: «jene, die danach trachten, mit allen gut auszukommen», wie es Carsten Schradin formuliert.
Im Winter (lies: Juni) ändern sich die Lebensumstände der Striemengrasmaus radikal. Nach warmen, trockenen Tagen kann plötzlich eine grosse Feuchtfront auftauchen, und es regnet drei Tage lang über Namaqualand. Fliesst ausserdem eiskalte Luft aus der Antarktis nach Südafrika ein, setzt dieser Wintereinbruch einem Drittel der Striemengrasmäusen derart zu, dass sie am Ende ihres ersten Jahres sterben; der Rest schafft es bis längstens in den zweiten Winter, wenn er oder sie nicht schon vorher einem der zahlreichen Feinde oder einer Dürreperiode zum Opfer fällt.
Nimmt die Nahrungsfülle ab – aus welchem Grund (Kälte, Dürre) auch immer –, verringert sich die Anzahl Tiere, und ihr Sozialverhalten passt sich den veränderten Umständen an. Weibchen und Männchen werden Einzelgänger und verteidigen aggressiv ihr Territorium gegen Eindringlinge. Als nächstes möchte Carsten Schradin mittels Hormonmessungen herausfinden, wie sich die Striemengrasmäuse entscheiden, ob sie alleine oder in der Familie leben wollen.
Erste hormonelle Untersuchungen haben bereits ein paar Resultate gebracht: So weisen Männchen, die in Gruppen mit mehreren Weibchen leben, hohe Stresshormone auf, während ein herumstreunendes Männchen weniger gestresst ist und höhere Testosteronwerte hat. Auch haben die gruppenlebenden Männchen einen hohen Energieumsatz – diese Beobachtung erklärt sich Carsten Schradin so, dass die Nager nachts beim Schlafen in der Gruppe Energie für ihre Tagesaktivitäten «sparen».
Bei den Striemengrasmäusen zeigt sich besonders anschaulich, dass in manchen Forschungsbereichen nur lange Beobachtungszyklen über mehrere Generationen hinweg Sinn machen. «Hätten wir die Striemengrasmäuse nur ein Jahr lang beobachtet, wären wir zu falschen Schlüssen gekommen», sagt Carsten Schradin. Das Verhalten der Striemengrasmäuse entwickelt sich in einem Dürrejahr nämlich völlig anders als in einem Regenjahr oder in einem guten Jahr. Erst nach mehreren Generationen erkennt man die ganze soziale Bandbreite, zu der diese Art Nager fähig ist.
Den nötigen finanziellen Rahmen, der seiner Forschung genügend Raum gibt, hat Carsten Schradin vor einem Jahr von der Verhaltensbiologin Prof. Barbara König von der Universität Zürich erhalten: Sie hat ihn für insgesamt sechs Jahre als Forschungsassistenten angestellt. Doch die Geburt seines Sohnes hat den passionierten Feldforscher etwas gebremst: aber er kann immer noch vier Monate jährlich in seiner Forschungsstation in Namaqualand arbeiten. Zusätzlich hat er einen Teil der Studien an den Irchel verfrachtet. Die Schradin'sche Familie wird es danken. Denn der Homo sapiens kann zwar vieles, doch so schnell und radikal auf «Dürreperioden» reagieren, wie es die flexiblen Striemengrasmäuse tun, das kann er nicht.