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Fit, braungebrannt und offenbar bester Laune, so präsentierte sich der ehemalige deutsche Aussenminister (1974 bis 1992) Hans-Dietrich Genscher gestern in der Aula der Universität Zürich dem Publikum bei seiner Rede zur «Rolle Europas in der neuen Weltordnung.» In seinen einleitenden Worten lobte Rektor Hans Weder Genscher als Mann, der viel zur Aussöhnung Deutschlands und Frankreichs beigetragen habe: «Europa hat ihm viel zu verdanken.»
«Let Europe arise», hatte der britische Kriegspremier Winston Churchill dem Publikum am gleichen Ort am 19. September 1946 zugerufen. Nach dem 2. Weltkrieg lag der Kontinent in Trümmern und brauchte eine Zukunftsvision. Diese formulierte Churchill in seiner Rede: er rief die Erzfeinde Deutschland und Frankreich zur Versöhnung auf und plädierte für die Gründung der «Vereinigten Staaten von Europa». Churchills Vision ist wahr geworden. Sie hat dem Kontinent, der während Jahrhunderten von Kriegen zwischen den grossen Staaten heimgesucht wurde, Frieden und Prosperität gebracht.
Der grand old man der deutschen Aussenpolitik stand gestern dem grossen Briten in nichts nach: er formulierte seine Vision einer friedlichen Welt. Als Modell dazu dienen sollte Europa: «Wir haben aus unserer Geschichte gelernt», sagte Genscher und erinnerte and die Gründung der Europäischen Gemeinschaft 1957 durch Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. «Die Europäischen Gemeinschaft basierte auf der Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der Staaten», betonte Genscher. Sie war eine Absage an die alte Macht- und Rivalitätspolitik. An deren Stelle trat eine konstruktive Zusammenarbeit zum Wohle aller.
Genauso wie sich Europa damals zusammenraufte und aus den Trümmern des 2. Weltkrieges wieder blühende Landschaften wurden, genauso müsse man heute im globalen Massstab einen Dialog der Versöhnung pflegen, appellierte Genscher ans Publikum, in dem zahlreiche Honoratioren aus Wirtschaft und Politik sassen. Der unilateralen Grossmachtpolitik, wie sie vor allem von den USA betrieben wird, erteilte Genscher eine Absage. Er stellte ihr eine multilaterale Politik der guten Nachbarschaft, des Dialogs und der Zusammenarbeit entgegen: «Wir brauchen eine neue globale politische Strategie.» Diese müsse auf gegenseitigem Respekt und der Einhaltung von Rechtsnormen basieren. Genscher erinnerte daran, dass die Bundesrepublik in den 1970-er Jahren die Herausforderung des roten Terrors nur haben meistern können, weil sie die Prinzipien der Rechtsstattlichkeit nie aufgegeben habe.
Der bald 80-jährige Genscher war versiert und eloquent wie je. Und er kennt die Weltpolitik immer noch wie seine Westentasche. Einen wie ihn könnten wir heute gut gebrauchen. Einen, der mit Verstand, Augenmass und nicht zuletzt Geduld daran arbeitet, dass die Dinge zu einem guten Ende kommen.