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In chinesischen Taxis baumeln kleine Mao-Anhänger als Glücksbringer, Studenten verwandeln die Hymne der kommunistischen Internationale in einen Rocksong und Videos von propagandistischen Musicals finden als Prunkausgaben reissenden Absatz. Längst sind in China die Aussmasse des Roten Terrors während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 bekannt. Doch statt die Symbole der Unterdrückung zu meiden, pflegen die Menschen in China einen spielerischen Umgang damit.
Die Heidelberger Sinologin Barbara Mittler nahm sich in ihrem Eröffnungsvortrag zu den diesjährigen «kontroversen» zum Thema «Komponieren in totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts» des Widerspruchs zwischen kollektivem Gedächtnis und individueller Erfahrung an.
Die Ostasienexpertin weitete das herkömmliche Verständnis des Begriffs Propaganda aus. Ihr ging es gerade nicht um den herrschaftlichen Aspekt. In Interviews in verschiedenen chinesischen Bevölkerungsschichten hat sie Menschen nach ihrer Erfahrung mit der Kulturrevolution befragt. Erstaunlicherweise wurden die Erlebnisse oft als ausgesprochen positiv erinnert. Viele Menschen bekamen erst durch die verordneten Aktivitäten einen Zugang zur Kultur, zu den Schriften Konfuzius oder auch zur Peking-Oper. Manchem ermöglichte etwa die Antikonfuziuskampagne den Aufstieg vom Bauernsohn zum prominenten Intellektuellen. Letztlich machten die kulturellen Gemeinschaftserlebnisse einfach auch Spass.
Heute spielt die Jugend in einer Art Retro-Kult mit Versatzstücken der Mao-Zeit, auch die Werbung oder gar Anti-SARS-Kampagnen schöpfen ausgiebig aus diesem kulturellen Fundus. Mao selbst steht in den Köpfen der Menschen für eine egalitäre, altruistische Vergangenheit, die mit der Hinwendung zum Kapitalismus zu Grabe getragen wurde. Vom kreativ spielerischen Umgang mit der Propaganda-Kultur leitete Mittler ab, dass Propaganda genauso wirkt und deshalb vergleichbar sei mit anderen Formen von Populärkultur. «Ist Propaganda nicht einfach nur eine politische Form von Werbung?», spitzte Mittler ihre Thesen provokativ zu.
Doch was hat die chinesische Propaganda mit den Bedingungen musikalischen Schaffens in totalitären Staaten zu tun? Ein konventioneller Zugang zum Thema ist den Organisatoren von der Universität Zürich, Laurenz Lütteken und Hans-Joachim Hinrichsen, wahrlich nicht vorzuwerfen. Der erweiterte Propaganda-Begriff könnte auch für die musikwissenschaftliche Diskussion von Nutzen sein. Damit liesse sich Musik nach ihren Funktionen unterscheiden und nicht allein aufgrund von Werturteilen, wie häufig in den Diskussionen auf dem Symposium geschehen.
Schostakowitsch etwa, führte der emeritierte Professor für osteuropäische Geschichte, Carsten Goehrke, in seinem Referat aus, komponierte 1949 das Oratorium «Der Gesang von den Wäldern». Eine Devotionsgeste gegenüber dem Regime, nachdem er als parasitärer Neoklassizist verunglimpft worden war. Dass es das schlechteste Werk von Schostakowitsch überhaupt sei, darin waren sich die anwesenden Fachleute einig.
Auch Sergej Prokofjew ging einen solchen Kompromiss ein. Um sich zu rehabilitieren, nachdem ihn das Heimweh aus dem französischen Exil zurückgetrieben hatte, komponierte er 1950 ein ähnlich propagandistisches Werk, genannt «Auf Friedensposten». Pikanterweise ist unter diesen Umständen auch das im Westen als harmloses Märchen rezipierte Musikstück «Peter und der Wolf» entstanden, in dem es in Wahrheit um den Pionier Petja geht, der gegen den Kapitalismus in Gestalt des bösen Wolfs kämpft.
Das Spiessertum der Ideologen war ein wiederkehrendes Thema in den Referaten. Der kleinbürgerliche Geschmack, von Stalin unter dem Diktum der «Volkstümlichkeit» als Forderung an die Komponisten gerichtet, zielte auf die breiten Masse ab, um diese letztlich für die politische Sache zu gewinnen. So entblödete sich Stalin nicht, Schostakowitsch selber auf dem Klavier vorzuspielen, um ihm zu demonstrieren, was er sich unter Musik fürs Volk vorstelle und ihm musikalische Tipps zu geben.
Doch wies Goehrke auch auf Stalins ambivalente Haltung gegenüber den grossen Komponisten hin, das heisst auf seinen Respekt vor deren Können. Dies schliesslich öffnete den so stark kritisierten und auch zensierten Künstlern gewisse Freiräume, in denen sie unter den Bedingungen des totalitären Staates wirken konnten.
Leitmotivisch zog sich die Idee der Freiräume fürs musikalische Schaffen unter den Bedingungen von totalitären Systemen durch die Beiträge des Symposiums; sei es für das kommunistische Polen oder die DDR, Franco-Spanien oder das faschistische Italien. Indirekt zeigte sich dadurch die Unzulänglichkeit des Totalitarismus-Begriffes, hingegen aber auch der Nutzen, sich auf einen einzelnen Aspekt wie die Bedingungen musikalischen Schaffens zu konzentrieren. So ergab sich ein differenziertes Bild von den Verhältnissen in den unterschiedlichen diktatorischen Systemen.
Gianmario Borio aus Cremona demonstrierte anhand des propagandistischen Films «Scipione L’Africano», dass das Ziel faschistischer Kulturpolitik in Italien einzig und allein die Schaffung eines Konsenses war. Bis 1938 versuchte der Staat ganz im Gegensatz zu Nazi-Deutschland, alle Künstler, auch die wenigen mit etwas kritischerer Haltung, in das Kulturleben zu integrieren. Für den Propaganda-Film über Scipio habe Ildebrando Pizzetti sein bestes musikalisches Werk überhaupt geschaffen.
Auch für das Franco-Spanien der 30er-Jahre konnte die Musikhistorikerin von der Universität Zürich, Cristina Urchugueia, zeigen, dass eine grosse Offenheit für verschiedenste Musikrichtungen herrschte, einschliesslich der internationalen Moderne. Abgelehnt wurden lediglich die exilierten Komponisten, jedoch aus ideologischen, nicht aus ästhetischen Gründen.
Der polnische Kommunismus liess Lücken für ein international präsentables, zeitgenössisches Schaffen. Der erfahrene Radiomacher und Festivalorganisator Ulrich Dibelius berichtete, wie es im Umfeld des Musikfestivals Warschauer Herbst ab 1956 zu einer im gesamten Ostblock einzigartigen Blüte zeitgenössischer Komposition kam. Gleichwohl führte er aus, dass die Akzeptanz der «Polnischen Schule» darauf beruhte, dass sie nicht völlig abstrakt war, sondern religiöse oder nationale Bezüge erlaubte.
Mit Peter Gülke war aus Berlin ein weiterer Praktiker eingeladen. Er war bis zu seiner «erzwungen freiwilligen» Ausreise aus der DDR 1983 als Dirigent Generalmusikdirektor in Dresden und Weimar. Er erzählte anekdotisch, wie die Kapellmeister in der DDR ihre Spielräume ausschöpften, indem sie junge Komponisten, die dem System nicht genehm waren, mit Aufträgen über Wasser hielten. So entstanden zahlreiche beachtliche Werke, die allerdings in Vergessenheit geraten sind.
Der einzige Fall, in dem es gerade nicht um Freiräume, sondern um die Bedrängung eines Komponisten ging, brachte mit dem «Fall Hindemith» Giselher Schubert aus Frankfurt am Main zu Gehör. Paul Hindemith komponierte unter anderem für die Schüler eines Gymnasiums die Kantate «Plöner Musiktag», war also betont volksnah, wenn auch in einem demokratischen Sinne. 1933 wurde die Hälfte seiner Werke verboten, weil sie angeblich kulturbolschewistisch waren. Als einziger deutsch-«arischer» Komponist, so Schubert, war Hindemith gezwungen, zu emigrieren, erst in die Schweiz, dann in die USA.
Als einen schockierenden Befund stellte der Referent die grosse argumentative Ähnlichkeit zwischen einem Nazi-Text von 1935 und einem Text von Theodor Adorno aus dem Jahr 1968 heraus. In beiden Texten wird Hindemith vornehmlich angegriffen wegen seiner angeblichen Charakterschwäche, die ihn keinen eigenen Stil entwickeln, sondern rein eklektizistisch vorgehen liess.
Als krönender Abschluss des Symposiums geplant, brachte die Podiumsdiskussion mit Peter Gülke und Jean-François Bergier zum Thema «Verschränkungen, Beschränkungen» mit einem Vergleich zwischen der Schweiz und der DDR kaum neues zu Tage. Bergier als Schweizer Prominenter auf dem Podium erzählte, dass die Kultur in der Schweiz für die Geistige Landesverteidigung instrumentalisiert, jedoch nicht bedrängt wurde. Die föderalistische Struktur habe das Land stets vor der Versuchung bewahrt, eine Diktatur einzurichten, wie die Ablehnung einer im autoritären Sinne revidierten Verfassung in den Dreissigerjahren zeigte.
Die «kontroversen» als Bestandteil der Zürcher Musikfestspiele und in Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar fanden dieses Jahr zum fünften Mal statt. Ein guter Jahrgang, in dem der Spagat zwischen wissenschaftlichem Anspruch und populärer Vermittlung vorbildlich gelungen ist.