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Leidenschaft für Biographien

Wie werden wir, wer wir sind? Diese Frage hat Helmut Fend ein Forscherleben lang beschäftigt. Jetzt geht der Professor für Pädagogische Psychologie in Pension - ein Porträt.
Roger Nickl

Die Reproduktion des Anker-Bildes in Helmut Fends Büro zeigt eine Schulstube im 18. Jahrhundert. Auf der rechten Seite des Bildes sitzen die Schüler dicht gedrängt hinter ihren Bänken. In der Bildmitte, vor einer Wandtafel stehend, löst ein Zögling eine Aufgabe – streng überwacht von Pastor, Lehrer und den grimmig blickenden Herren der Schulpflege.

Schule als Leistungstest für den Lehrer: Pädagogikprofessor Helmut Fend befasste sich in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit intensiv mit der Rolle der Schule.

«Offensichtlich ein Leistungstest», sagt Pädagogikprofessor Helmut Fend. Vor über vierzig Jahren stand der heute 65-Jährige selbst als Volksschullehrer in einem Klassenzimmer. Neun Schüler musste er damals in einer Vorarlberger Berggemeinde unterrichten. Das tönt nach Idylle, doch der Eindruck täuscht, die Aufgabe wurde auch für ihn zum Leistungstest: «Die Schüler deckten das ganze Altersspektrum ab und so musste ich permanent den ganzen Stoff präsent haben, das war sehr anstrengend», erinnert sich Fend. Es war aber nicht dieser Effort, der ihn schliesslich dazu bewog, seine Lehrerkarriere abzubrechen. Der Grund war ein anderer: den damaligen Jüngling dürstete es nach Wissenschaft, nach Literatur und Philosophie. Also studierte Fend in Innsbruck Germanistik, Psychologie und Pädagogik.

«Kontrasterlebnis» in London

Den entscheidenden Impuls für seine weitere Wissenschaftskarriere erhielt er jedoch nicht im Tirol, sondern 1965/66 während eines einjährigen Studienaufenthaltes in London. Dort hatte Fend, wie er sagt, ein «Kontrasterlebnis»: «Pädagogik wie ich sie bis dahin kannte, war im wesentlichen Geistesgeschichte, im Zentrum stand die Frage, wie sich der Mensch idealerweise entwickelt – das hatte etwas Theologisches.» In England kam der junge Erziehungswissenschaftler dagegen mit der empirisch ausgerichteten Soziologie, wie sie der britische Forscher Basil Bernstein vertrat, in Berührung.

Die Pädagogik wurde für Fend zur «Wirklichkeitswissenschaft». Bernstein bestärkte ihn darin, nicht die Ideale, sondern die realen Bedingungen der menschlichen Entwicklung zu ergründen. Wie wird der Mensch durch seine Erfahrungen vergesellschaftet? Und wie wird die Etablierung von Werten und Normen im Jugendalter beeinflusst? Solche Fragen erforschte Fend in der Folge mit den Mitteln der Empirie – zuerst an der Universität Konstanz und seit 1987 als Ordinarius für Pädagogische Psychologie an der Universität Zürich.

Kindergarten als pädagogischer Schonraum

Eine Reihe von massgebenden Studien, die die Rahmenbedingungen des Erwachsenwerdens erforschten, sind seither entstanden. In seinen Büchern beschäftigte sich Fend beispielsweise mit der «Sozialgeschichte des Aufwachsens» im 20. Jahrhundert, der «Entwicklungspsychologie des Jugendalters» oder in «Eltern und Freunde» mit dem sozialen Umfeld von Aufwachsenden. Und immer wieder setzte sich der Pädagogikprofessor mit der Schule und ihrer Funktion in der Gesellschaft auseinander – so in der «Theorie der Schule» (1980) und in der eben veröffentlichten «Neuen Theorie der Schule».

Welches Zeugnis stellt der Pädagoge heute der Institution Schule aus? – Und wo sieht er die grössten Herausforderungen? Als wichtige Punkte nennt Fend die Themen Chancengleichheit und Integration. Trotz einem erweiterten Angebot habe sich der Zugang zur Bildung in den letzten 25 Jahren insbesondere für Migrantenkinder nicht wesentlich verbessert. Deshalb sei vor allem in urbanen Ballungszonen ein erhöhter schulischer Förderungbedarf nötig. Und: die Frühförderung sollte stärker ins Auge gefasst werden, ist der Erziehungswissenschaftler überzeugt. Fend: «Der Kindergarten hat heute Aspekte eines pädagogischen Schonraums – mehr schulische Anforderungen könnten sich hier positiv auswirken, gerade in Bezug auf die Integration.»

Biographie einer Generation

Zum Highlight von Helmut Fends Forscherlaufbahn ist die so genannte Life-Studie geworden. «Ein wissenschaftlicher Glücksfall», sagt er. In der gemeinsam mit der Universität Konstanz durchgeführten Langzeitstudie wurde die biographische Entwicklung einer ganzen Generation untersucht und detailiert aufgezeichnet – ein bislang einmaliges Projekt. Die Wissenschaftler befragten zwischen 1979 und 1983 rund 2000 Jugendliche, um den Übergang von der Kindheit in das Jugendalter zu erforschen. 20 Jahre später wurde der grösste Teil der damaligen Jugendlichen, die nun zwischen 35 und 40 Jahren alt waren, erneut befragt. So ist ein einzigartiger Datensatz entstanden, der es den Forschern erlaubt, Aussagen darüber zu machen, welche Faktoren in der Jugend für die Entwicklung im Erwachsenenalter entscheidend sind. Was hat nun diese Generation besonders stark beeinflusst? «Die Pille war die grosse Revolution für die Veränderung von Wertorientierungen», hebt Fend einen zentralen Faktor hervor, «die Tendenz, dass Frauen später Kinder kriegen, macht dies deutlich.»

Die Life-Studie ist mittlerweile abgeschlossen. Und auch wenn Helmut Fend nun in Pension geht, er schmiedet bereits neue Pläne. «In wenigen Jahren kommen die Kinder der untersuchten Generation ins Jugendalter. Da wäre eine generationenübergreifende Folgestudie natürlich schon sehr reizvoll.» Wie es aussieht, wird den emeritierten Professor die Leidenschaft für Biographien auch in Zukunft nicht los lassen.