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Das eigene Gewissen, Erde und Kosmos sowie humanistische Prinzipien: In diesem Bezugsrahmen sehen die schweizerischen Politikerinnen und Politiker ihre ethische Haltung hauptsächlich verankert. Nachgefragt nach dem Ethikverständnis hatte das Lassalle-Institut zusammen mit dem Soziologischen Institut der Universität Zürich. Am Freitag stellten die Autorinnen Regula Grünenfelder und Anna Gamma sowie Autor Jörg Eugster vom Lassalle Institut ihre als Buch erschienene Studie «Ethik 2006» im Rahmen einer Tagung an der Universität Zürich vor.
Knapp 60 Prozent der etwas über 800 teilnehmenden Politikerinnen und Politiker aus allen Ebenen sehen den «Wohnort des Guten» – so die Bedeutung des griechischen «ethos» – im eigenen Gewissen, wie Eugster und Grünenfelder erklärten. Doch fast genauso häufig wurden als Definitionen für Ethik «Verantwortung für Erde und Kosmos tragen» (57%) und «nach humanistischen Prinzipen handeln» (56%) genannt.
«Damit wird der individualistische Ansatz klar relativiert», erklärte Eugster. «Verantwortung für das gesamte Leben und die Menschenwürde treten dem eigenen Gewissen zur Seite.» Nicht zentral für das Ethikverständnis der Politikerinnen und Politiker sind hingegen vorgegebene Normen und Gesetze sowie religiöse Grundsätze. Diese spielen nur bei zwölf Prozent der Befragten in ihrem persönlichen Ethikverständnis eine Rolle.
Ethisches Handeln machen Politikerinnen und Politiker also hauptsächlich mit sich selber aus. Darin unterscheiden sie sich kaum von den Bürgerinnen und Bürgern, wie der Soziologe Hanno Scholtz von der Universität Zürich aus anderen Befragungen weiss. Scholtz und seine Studierenden konzipierten die Befragung gemeinsam mit dem Lassalle-Institut und führten die Erhebung und Auswertung durch.
«Die Ethikstudie wirft ein Schlaglicht auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Komplexität», so Scholtz’ wichtigste Erkenntnis aus der Befragung. «Sie zeigt, dass die Einzelnen heute stärker als früher in individuellen Entscheidungszwängen stehen.»
«Vor zwanzig Jahren wäre das eigene Gewissen noch nicht an der Spitze gestanden», ist Scholtz überzeugt. Die Institutionen, seien dies kirchliche oder andere, bieten aber immer weniger klare Verhaltensregeln, nach denen Entscheide gefällt werden. «Die Einzelnen müssen deshalb mit ihrem Gewissen einen weiten Bogen spannen, um in komplexen Wirkungszusammenhängen ethisch richtige Entscheide zu treffen.»
Für Scholtz ist dieser Rückgriff auf das eigene Gewissen eine «effiziente Art, mit der Komplexität umzugehen». Denn im eigenen Gewissen schlagen sich die Werthaltungen der Gesellschaft nieder. Es bildet deshalb eine gemeinsame Verständigungsbasis, die nicht jedes Mal neu erklärt und verhandelt werden muss: Weil das Gewissen von den der Gesellschaft zu Grunde liegenden Werten geprägt ist, ist ein Handeln nach dem Gewissen auch in der Gesellschaft konsensfähig.
Ethische Entscheide «nach bestem Wissen und Gewissen» würden nicht nur den Politikerinnen und Politikern abverlangt, sondern in einer direkten Demokratie auch immer wieder den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern, spielte Bundesrat Samuel Schmid in seinen Überlegungen zur Ethik in der Schweizer Politik den Ball an die Anwesenden zurück. Ethik sei deshalb nicht teilbar. Sie gelte für alle Menschen gleich, egal, ob sie nun Politikerinnen oder Politiker, Sportlerinnen, Manager oder eben Bürgerinnen und Bürger seien.
«Wer die Wählerinnen und Wähler ernst nimmt, ist aufgerufen, Entschiede zu fällen, zu denen er stehen kann», formulierte Schmid sein Verständnis von Ethik im Rahmen der Politik. Der Spielraum für ethische Überlegungen ist allerdings gering. Schmid nannte als Beispiel den Umweltschutz und fragte sich: «Ist kurzfristig wirklich nie richtig, was langfristig falsch erscheint?» Denn was langfristig im Sinne der Verantwortung für die Erde richtig sei, könne kurzfristig zu Entscheidungen führen, welche die wirtschaftliche Existenz der Bürgerinnen und Bürger gefährde.
Dass ethischen Ansprüchen oft andere Interessen widersprechen und Politikerinnen und Politiker in ein Dilemma bringen, das kam auch in der Studie zum Ausdruck. Konkret auf die Situation im Bundesrat mit dem Kollegialitätsprinzip angesprochen, sah Samuel Schmid allerdings keinen Widerspruch zwischen eigener ethischer Haltung und dem durch die Kollegialität vorgegebenen Gebot, auch gegen die eigene Überzeugung Meinungen zu vertreten. Allerdings, wenn es um Grundsatzfragen gehe, dann müsse es erlaubt sein, gegenteilige Meinungen öffentlich zu machen, schränkte Schmid ein: «Da darf man sich nicht zur Geisel der Kollegialität machen«.
Wichtigen ethischen Grundsatzfragen räumte Schmid auch die Berechtigung ein, sich über die Legitimität des Staates – etwa über bestehende Geheimhaltungsvorschriften – hinwegzusetzen. Dass der Zweck, wenn er ethisch begründet ist, die Mittel heiligen könne, darin ist sich Schmid mit der Mehrheit der befragten Politikerinnen und Politiker einig. Zur Erreichung rein politisch oder anders motivierter Ziele hingegen dürfen rechtsstaatliche Regeln nach Auffassung der Mehrheit nicht gebeugt werden. Oder wie es Schmid im Hinblick auf die Fax-Affäre formulierte: «Die günstige Gelegenheit für einen medialen Knüller ist kein ethisches Gut.»