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Der Politikwissenschaftler Dieter Ruloff ist einer von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Universität Zürich, die sich mit Asien und dem Verhältnis von Asien und Europa beschäftigen. «China und Indien sind die potenziellen Supermächte des 21. Jahrhunderts», sagt er, «entsprechend wird sich die internationale Politik in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren komplett verändern.»
Noch versuchen die USA quasi im Alleingang Weltpolitik zu machen. Doch Asien wird an Bedeutung gewinnen – auch für Europa. «Die Welt wird künftig tri- oder multipolar sein und die Spielregeln werden neu festgelegt», sagt Ruloff. In seinen Forschungsprojekten untersucht der Spezialist für Internationale Beziehungen unter anderem die politische Entwicklung in Indien und China.
«In Zürich gibt es eine schweizweit einmalige Konzentration von wissenschaftlichen Kompetenzen im Bereich der Asien-Europa-Forschung», sagt der Islamwissenschaftler Ulrich Rudolph. Um dieses Know-how besser zu vernetzen und ein Forum für die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu schaffen, wurde deshalb der interdisziplinäre Forschungsschwerpunkt «Asien und Europa. Prozesse und Probleme der Aneignung und Abgrenzung in Kultur, Religion und Gesellschaft» ins Leben gerufen – ein Novum für die Schweiz.
An dem akademischen Grossprojekt beteiligt sind Forscherinnen und Forscher der Philosophischen, der Theologischen, der Mathematisch-naturwissenschaftlichen und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler notabene, die sich trotz des Interesses an einer Region im akademischen Alltag oft noch nie begegnet sind. Sie vertreten ein breites Spektrum von Fächern – von der Sinologie über die Ethnologie bis zu Rechts- und Religionswissenschaft. «Mit dem Forschungsschwerpunkt ‹Asien und Europa› wollen wir zur Verständigung und zum Dialog in der Wissenschaft, aber auch in der Gesellschaft beitragen», sagt Ulrike Müller-Böker.
Sie selbst erforscht unter anderem Migrationsbewegungen in Asien – ihre Projekte haben ganz konkrete Folgen für die Menschen in den untersuchten Regionen. «Im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts Nord-Süd, an dem ich beteiligt bin, konnten wir in Delhi beispielsweise eine Organisation für nepalesische Migranten aufbauen», erzählt die Geografin.
Die Schaffung eines Forschungsprojekts mit Schwerpunkt Asien versteht Müller-Böker auch als wissenschaftspolitisches Statement. Wenn heute von internationaler Vernetzung gesprochen werde, seien oft die USA und Grossbritannien gemeint, sagt sie. «Von Asien ist kaum die Rede. Internationale Vernetzung muss aber mehr sein als eine Verneigung vor dem Westen.»
Ein erstes Zeichen setzt der neu geschaffene universitäre Forschungsschwerpunkt mit einem interdisziplinären Kolloquium, das im Sommersemester 2006 erstmals stattfindet. Weitere Veranstaltungen, etwa Summer Schools oder Tagungen, werden momentan diskutiert, sind aber noch nicht konkret geplant.
Besonderes Gewicht wird auf die Nachwuchsförderung gelegt. «Wir wollen für den wissenschaftlichen Nachwuchs Raum zum Austausch und gemeinsamen Nachdenken schaffen», sagt der Sprecher des Forschungsschwerpunkts Ulrich Rudolph, «die ersten Projektstellen sind bereits ausgeschrieben.»
Dass bereits jetzt und nicht, wie von der Universitätsleitung geplant, in zwei Jahren damit begonnen werden kann, ist der Gebert-Rüf-Stiftung zu verdanken. Die Institution hat mit einem Beitrag von 2,4 Millionen Franken die Anschubfinanzierung für die ersten drei Jahre übernommen. Im dritten Jahr wird die Universität den Forschungsschwerpunkt mit 800'000 und ab dem vierten Jahr mit jährlich 1,6 Millionen Franken unterstützen. Die Geschäftsstelle des Schwerpunkts «Asien und Europa», die am Orientalischen Seminar angesiedelt sein wird, nimmt ihre Arbeit am 1.Januar 2006 auf.
Bewusst offen gehalten ist im Augenblick das Spektrum möglicher Themen und die Vernetzung der einzelnen Forschungsprojekte. «Am Anfang steht die Vielfalt», sagt Ulrich Rudolph, «die gemeinsamen Themen sollten sich allmählich aus den konkreten Projekten entwickeln.» Und Ulrike Müller-Böker ergänzt: «Wir möchten national und international gute Leute für unseren Forschungsschwerpunkt gewinnen, deshalb ist es auch nicht sinnvoll, sich von Beginn weg thematisch zu stark einzuschränken.»
Vorgegeben sind deshalb lediglich einige Grundbegriffe, mit denen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler intensiver auseinandersetzen wollen: Identität, Abgrenzung und Aneignung. «Wir wollen mehr darüber erfahren, wie ähnlich beziehungsweise wie unterschiedlich identitätsstiftende Determinanten in verschiedenen Kulturen sind», erklärt Rudolph. Vom neuen Forschungsschwerpunkt ist also eine differenzierte Sicht auf das Eigene und das Fremde zu erwarten.