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«Die sexuelle Frage» und die Medien

Vor hundert Jahren legte der Zürcher Psychiater Auguste Forel mit seinem Buch «Die sexuelle Frage» den Grundstein für eine entmoralisierte, moderne Konzeption der Sexualität. Forel reformierte damit nicht nur radikal die Vorstellungen von Sexualität, sondern schuf auch ein Beispiel dafür, wie der mediale Diskurs diese Vorstellungen prägt.
Theo von Däniken

Wurde dank «Volksauflage» zum Bestseller: Auguste Forels «Die sexuelle Frage» (im Bild die Titelseite  der amerikanischen Ausgabe).

Er hiess die Homosexualität gut, forderte die konsequente Gleichstellung von Mann und Frau und propagierte das Matriarchat. Gleichzeitig war er ein «knochenharter Eugeniker» und Anhänger von Zwangssterilisationen insbesondere von Frauen: Der Zürcher Psychiater Auguste Forel prägte mit seinem vor hundert Jahren erschienenen Buch «Die sexuelle Frage» die Vorstellung der Sexualität im 20. Jahrhundert entscheidend mit.

Gingen der Interdependenz von Sexualität und Medien nach: die Professoren Philipp Sarasin …

Für die beiden Professoren Philipp Sarasin und Jakob Tanner von der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich war der hundertste Jahrestag des Erscheinens von Auguste Forels Buch Anlass, an einem zweitägigen internationalen Kongress der Frage nach der Interdependenz von Sexualität und Medien im 20. Jahrhundert nachzugehen.

… und Jakob Tanner von der Universität Zürich.

Widersprüchlicher Auguste Forel

Die widersprüchliche Figur Forels erwies sich dabei als ebenso spannend, wie sein Buch exemplarisch für die mediale Prägung der Vorstellungen von Sexualität steht. Als begeisterter Anhänger der Theorien Darwins kämpfte Forel gegen eine von Moral und Religion definierte Vorstellung von Sexualität. «Der immanente Zweck der Sexualität ist die Fortpflanzung der Art», referierte Sarasin den Fundamentalsatz von Forels Theorie. «Dabei sind die beiden letzten Worte von Bedeutung», unterstrich Sarasin und wies auf die für Forel zentrale Verknüpfung von Sexualität und Rassenhygiene hin.

Erlaubt ist, was «den Keimen» nicht schadet

An die Stelle Gottes setzte Forel die «Religion des sozialen Wohls» als moralischen Massstab. Ihr einziges Ziel ist die Verbesserung der Art. Deshalb plädierte Forel für eine Sexualität, in der alles erlaubt ist, solange es «den Keimen» nicht schadet. Was diesem Ziel entgegensteht, etwa die Fortpflanzung von Behinderten oder psychisch Kranken soll durch Sterilisation verhindert werden.

«Aus heutiger Sicht steckt Forels Buch voller Widersprüche», erinnerte Philipp Sarasin an der Tagung. Forel ziehe aus dem Darwinismus Schlüsse, «die heute erschrecken». Jakob Tanner versuchte mit einer Kontextualisierung von Forels Buch diese Widersprüche zu beleuchten. So war Forel ebenso Pazifist, Antimilitarist und Kämpfer für die rechtliche Gleichstellung der Frauen wie Anhänger von Rassentheorien und der Eugenik.

Perfektionierung der Art

Beides lasse sich aus der Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit Forels heraus erklären, so Tanner. «Forel glaubte, dass die Welt durch den Fortschritt besser werde.» Seit der Aufklärung gebe es das Konzept der «Selbstperfektionierung des Homo sapiens», was Tanner als die «Provokation der Aufklärung» bezeichnete. Die Eugenik dient in diesem Prozess der Perfektionierung der Art dazu, die schlechten Elemente auszumerzen. Die Sprache Forels passt sich hier der gedanklichen Radikalität an und hat «exterminatorischen Charakter», wie Sarasin bemerkte.

«Longseller-Autor» mit Medienbewusstsein

Trotz oder gerade wegen der Radikalität von Forels Ideen ist sein Buch über Jahrzehnte zu einem Longseller geworden. Dies lag laut Tanner auch in Forels Fähigkeit begründet, «Bücher zu schreiben, die abhoben». Dabei wusste Forel die Medienmaschinerie, die zu seiner Zeit von Büchern und Zeitungen geprägt war, zu nutzen. «Forel konnte die kleine Maschinerie der Produktion mit der grossen Maschinerie der Imagination synergetisch verbinden», so Tanner. So nutzte Forel systematisch die Rückkoppelungen des Medienbetriebs und sammelte akribisch Reaktionen und Rezensionen auf sein Buch, die er in spätere Bearbeitungen einfliessen liess. Zum eigentlichen Bestseller wurde sein Buch durch eine «Volksauflage» im Jahr 1913 in gekürzter und vereinfachter Form, von der bis 1936 114'000 Exemplare verkauft wurden.

Im Wechselspiel von Sexualität und Medien zeigt Forels Buch exemplarisch, wie neue Vorstellungsbilder und neue diskursive Muster die individuelle Vorstellung davon prägen, was Sexualität ist. Forel habe es geschafft, so Tanner, in einer wissenschaftlichen Sprache das zu beschreiben, worüber sonst Sittlichkeitsparagraphen zu schreiben verboten. Das mussten ihm selbst seine kirchlichen Kritiker zugestehen: Sein Buch über die Sexualität war gänzlich frei von jeder Anzüglichkeit. Der Inhalt jedoch war Sprengstoff, der den Weg zu neuen Vorstellungen über die Sexualität ebnete.

 

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