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unicom: Frau Boothe, welche Bedeutung hat die Psychonalyse heute in der psychologischen Forschung – momentan sind ja vor allem naturwissenschaftliche Ansätze en vogue?
Brigitte Boothe: Viele psychoanalytische Konzepte sind in verschiedene psychologische Disziplinen längst eingegangen. Beispielsweise wurde die zentrale Rolle des Unbewussten bestätigt. Fruchtbar sind psychoanalytische Konzepte auch in der Gedächtnisforschung, beispielsweise im Zusammenhang mit dem episodischen Gedächtnis, der Dynamik der Erinnerungsarbeit oder der Traumaforschung. Bestätigt hat sich auch die von der Psychoanalyse propagierte Schlüsselrolle der frühen Kindheit für die Entwicklung des emotionalen Lebens, der sozialen Intelligenz, der Beziehungsfähigkeit und der Anfälligkeit für psychische und psychosomatische Störungen. Zudem werden Aspekte der psychoanalytischen Traumtheorie in der aktuellen psychophysiologischen Traumforschung lebhaft diskutiert.
Die Tagung, die Sie gemeinsam mit Thomas Stark und dem Freud-Institut organisiert haben, findet zu Ehren von Ulrich Moser statt. Er war von 1962 bis 1990 Professor für Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Was sind kurz zusammengefasst die herausragenden Leistungen Mosers?
Boothe: Ulrich Moser hat in der Weiterentwicklung der psychonalytischen Begriffs- und Theoriebildung Pionierarbeit geleistet – Beispiele dafür sind die Computersimulation von psychischen Abwehrprozessen und die Mikroanalyse emotionaler Prozesse. Am psychologischen Institut gründete er zudem die «psychotherapeutische Forschungs- und Beratungsstelle» und schaffte gemeinsam mit dem Soziologischen Institut eine «Interdisziplinäre Konfliktforschungsstelle». Die interdisziplinäre Offenheit Mosers zeigt sich auch darin, dass er psychoanalytische Konzepte mit solchen der Kognitionswissenschaften und der Künstlichen Intelligenz verbinden konnte.
Welche Themen stehen in der Forschung bezüglich Psychoanalyse und Psychotherapie aktuell im Vordergrund?
Boothe: Das ist eine sehr breite Palette von Themen: Sie reicht von der Traumaforschung über die Psychoanalyse der Persönlichkeitsstörungen und die Mikropsychoanalyse der Emotion bis hin zu Fragen der Interaktionsregulierung und der nonverbalen Verständigung und Themen zu Psychoanalyse und Kulturwissenschaft, um nur einige wenige Bereiche zu nennen, in denen wichtige Arbeit geleistet wird.
Wie wichtig ist der Ahnherr der Psychoanalyse, Sigmund Freud, für die Psychoanalyse und -therapie von heute?
Boothe: Freud war nicht nur Forscher und Kliniker, sondern er gehört in die Reihe der grossen Autoren und philosophischen Denker, die ein Schriftwerk in dichter und ingeniöser Sprache verfasst haben. Gleichzeitig ist dieses Werk thematisch so vielfältig, dass immer Neues daraus zu schöpfen ist. 1905 erschien beispielsweise die Monographie «Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten» – hier zeigt sich unter anderem Freuds erstaunliche literarische Interpretationssensibilität. Darüber hinaus regt das Werk dazu an, die Alltagspoesie des Witze-Reissens als Leistung sozialer Vergemeinschaftung sowie als Leistung emotionaler Intelligenz zu entdecken. Für viele Soziologen, Kulturwissenschaftler und Philosophen sind seine kulturtheoretischen Schriften von grosser und immer neuer Vitalität.
Was macht für Sie das Faszinierende der Psychoanalyse aus?
Boothe: Kurz gesagt, dass das mentale Leben im Körperlichen wurzelt und von der Welt der Beziehungen nicht wegzudenken ist.
Wie würden Sie sich die Zukunft der Psychoanalyse idealerweise erträumen?
Boothe: Ich würde mir einen lebendigen Austausch mit Hirnforschern, Experten der Interpretation und Theologen wünschen. Gerade in der Theologie gibt es viel zu entdecken.