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Vor etwa zwei Millionen Jahren begannen sich Vertreter der Gattung Homo aus Afrika in Richtung Europa und Asien zu bewegen. Die besterhaltenen und reichhaltigsten Fossilbelege für diese frühe «Diffusion» aus dem Ursprungskontinent stammen aus Dmanisi, einer Fundstelle mit einem geologischen Alter von etwa 1,7 Millionen Jahren, im Süden der Republik Georgien. Aus einem Grabungsfeld, das nicht grösser als ein mittlerer Schrebergarten ist, sind im Lauf der letzten Jahre von einem internationalen Team unter der Leitung von David Lordkipanidze (Georgisches Nationalmuseum, Tbilisi) mehrere fossile menschliche Schädel und dazu gehörende Unterkiefer geborgen worden, sowie eine Vielzahl von Steinwerkzeugen und Faunenresten.
Am 26. August 2002, dem letzten Tag der Grabungssaison, erschien in einer tiefen Sedimentschicht ein weiterer Schädel, eingekeilt zwischen Tierknochen. Um diesen wertvollen Fund mit Identifikationsnummer D3444 vollkommen unbeschadet zu lassen, wurde er mitsamt dem umgebenden Sediment geborgen und bereits am folgenden Tag in der Hauptstadt Tbilisi mittels Computertomographie (CT) untersucht. Die virtuellen Schnitte durch den Sedimentblock boten eine Überraschung: im Oberkiefer steckten offensichtlich keine Zähne mehr.
Wann waren sie verloren gegangen? Während des Lebens oder nach dem Tod des Individuums? Unter Verwendung der CT-Daten präparierte der georgische Grabungstechniker Gocha Kiladze in monatelanger Detailarbeit im Labor den sehr zerbrechlichen Schädel aus dem Sediment heraus. Die Grabungskampagne des Jahres 2003 förderte schliesslich den dazugehörigen Unterkiefer zu Tage, auch er ohne Zähne.
Bei D3444 handelt es sich um den frühesten und am vollständigsten erhaltenen Fund eines menschlichen Schädels, der bereits zu Lebzeiten alle Zähne bis auf einen einzigen Schneidezahn verloren hatte. Die Analyse der CT-Daten und ein Vergleich mit mittelalterlichen zahnlosen Schädeln (aus der Zeit vor der Erfindung des dritten Gebisses!) zeigte, dass das Individuum aus Dmanisi zumindest einige Jahre mit dieser Behinderung gut leben konnte.
Um die Tragweite dieses Befundes abschätzen zu können, führten wir ausgedehnte vergleichende Analysen durch. Zahnverlust bei frei lebenden Menschenaffen kann vor allem bei älteren Individuen ein gesundheitliches Problem darstellen, aber Zahnlosigkeit ist nur in einem einzigen Fall (innerhalb tausender von Museumsexemplaren!) nachgewiesen worden, wobei unklar bleibt, ob dieses eine Individuum nicht etwa Zugang zu Fruchtplantagen hatte und sich so mit weicher Nahrung versorgen konnte.
Im spätpliozänen Dmanisi herrschten allerdings klimatische Bedingungen, die bedeutend rauher waren, als in den tropischen Ökosystemen, die von Menschenaffen bewohnt werden. Zumindest im Winter standen also Früchte und andere weiche pflanzliche Nahrungsquellen nicht zur Verfügung. Wie hat D3444 während mehrerer Jahre ohne Zähne überleben können? Um diese Frage zu beantworten, müssen archäologische Daten hinzugezogen werden. Wie bereits erwähnt, birgt die Fundstelle von Dmanisi nicht nur menschliche Fossilien, sondern auch ein reichhaltiges Inventar an Steinwerkzeugen und an Tierknochen. An einigen dieser Knochen liessen sich Schnitt- und Schlagspuren nachweisen, was auf das systematische Zerlegen von grossen Säugetieren hinweist, besonders auf das Abtrennen von Muskelfleisch und die Gewinnung von Knochenmark.
Zum Überleben von D3444 lassen sich nun verschiedene Hypothesen aufstellen. Vielleicht war dieses Individuum geschickt und erfahren genug, sich die nötige weiche Nahrung selbst zu beschaffen oder mittels Werkzeugen entsprechend zu erschliessen, z.B. das nahrhafte Knochenmark. Da die Dmanisi-Menschen kaum als Einzelgänger überleben konnten, ist allerdings eher davon auszugehen, dass wir hier die Anfänge einer typisch menschlichen Verhaltensweise sehen, nämlich das aktive Teilen von Ressourcen und die gegenseitige Unterstützung innerhalb der Gruppe. Falls dies für die Dmanisi-Hominiden zutrifft, ergeben sich interessante Perspektiven. Kultur beruht auf Traditionen, d.h. auf Errungenschaften, die durchLehren und Imitation weitergegeben und weiterverbreitet werden. Für diese frühen Menschen könnte es einen Überlebensvorteil bedeutet haben, ein behindertes, vielleicht bereits betagtes Individuum «durchzufüttern», denn sie konnten von dessen Erfahrungen lernen. Also: Food for thought.