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Ethik hat Hochkonjunktur. Bei Bund, Kantonen, Forschungsinstitutionen, Grossfirmen – allenthalben werden seit einigen Jahren Ethikkommissionen oder ethische Räte eingesetzt. Ethische Fragen, etwa im Zusammenhang mit Organtransplantationen, Embryonen- oder Stammzellenforschung, werden in der Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutiert. Seit fünf Jahren bietet das Ethik-Zentrum der Universität Zürich einen Nachdiplomstudiengang mit Master-Abschluss in angewandter Ethik an, der auf grosse Nachfrage stösst.
Warum dieser Ethik-Boom? Susanne Boshammer, Oberassistentin am Ethik-Zentrum und Leiterin des Nachdiplomstudiengangs: «Die Gesellschaft ist, vor allem im Bereich Reproduktionsmedizin, zunehmend mit dem technologischen Fortschritt konfrontiert, mit verschiedenen Handlungsoptionen, die sie nicht wirklich einschätzen kann. Man weiss gar nicht richtig, welche Wege da beschritten werden. Oft gibt es noch keine klaren rechtlichen Regelungen.» Im Unterschiedzu früher ist heute eine breite Schicht der Bevölkerung über solche Entwicklungen informiert, und die neuen Möglichkeiten haben oft einen direkten Einfluss auf das Privatleben der Menschen. «Daraus», so Susanne Boshammer, «resultiert ein Orientierungsbedarf: Wie soll ich mich dazu einstellen? Darf man so was machen?»
Die Kernfrage der Ethik lautet: Was dürfen wir tun? Und: Was sollen wir tun? Richtschnur ist die Vernunft, sind verallgemeinernde ethische Prinzipien wie: Die richtige Handlung ist jene, von der du wollen kannst, dass jeder Mensch in dieser Situation sie wählt. Das klingt arg theoretisch und abgehoben – aber wer hat nicht als Kind das Sprichwort kennen gelernt: «Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.» Hier kommt ein ethisches Grundprinzip zum Ausdruck, das, so einfach formuliert, schon Kindern als Regel beim Spielen auf dem Pausenplatz einleuchtet.
Patricia Infanger, diplomierte Pflegefachfrau mit einer Ausbildung als Berufsschullehrerin im Gesundheitswesen, absolvierte den zweiten Nachdiplomstudiengang in angewandter Ethik. In ihrer Arbeit mit angehenden Pflegefachpersonen war sie immer wieder mit ethischen Fragen konfrontiert, die die Lernenden aus ihrem Arbeitsalltag einbrachten: Was tun, wenn ein Patient die Spitex-Betreuung ablehnt, obwohl er sie bräuchte? Darf man ihn dazuzwingen? Wie reagieren, wenn die Angehörigen einer Patientin für sie eine andere Pflege wünschen als die Patientin selbst? Ein anderes Thema, das Patricia Infanger beschäftigte,war die Frage, wie in der Pflege die Ressourcen gerecht verteilt werden können, wenn Personal und Finanzen knapp werden – ein heute zunehmend brisantes Problem.
Die Absolventinnen und Absolventen des viersemestrigen Nachdiplomstudiengangs werden mit den grundlegenden Methoden und Prinzipien der Ethik, mit dem Instrumentarium des ethischen Denkens vertraut gemacht. Dieses lässt sich dann im Rahmen konkreter Fragen aus den verschiedenen Bereichsethiken, zum Beispiel Medizinethik, Wirtschaftsethik, politische Ethik, Umweltethik oder Medienethik zur Anwendung bringen. Im ersten Kurs waren Teilnehmende aus medizinischen Berufen übervertreten, aber die Palette ist rasch breiter geworden. Juristinnen, Ingenieure, Journalistinnen, Banker und Pädagogen interessieren sich für die ethischen Aspekte ihres Berufs. Jeder Jahrgang ist auf fünfzig Teilnehmende beschränkt, bereits mussten Bewerber abgewiesen werden. Männer und Frauen sind ungefähr gleich vertreten; ihr Alter liegt zwischen Mitte zwanzig und Ende sechzig. Patricia Infanger schätzte es, mit so unterschiedlichen Leuten zusammenzukommen. Das habe ihren Blick erweitert, sagt sie. «Ich habe gelernt, die Dinge exakt anzuschauen und die ethischen Fragen in ihrer ganzen Breite wahrzunehmen.» Spannend sei es für sie auch gewesen, wie die Mitstudierenden aus anderen Berufen den Pflegebereich mit einem neuen, ihr ungewohnten Blick betrachtet hätten.
Das mag alles interessant und ein persönlicher Gewinn sein. Was aber ist der Nutzen der Ethik in unserer Gesellschaft? Ist sie mehr als ein Feigenblatt für die Forschung, mehr als ein Zückerchen, mit dem Kritiker des Fortschrittsglaubens beruhigt werden sollen? Susanne Boshammer: «Die Ethik ist ihrem Wesen nach ein kritischesGeschäft.» Sie räumt ein, dass die Ethik keine Vorschriften machen, keine Sanktionen aussprechen kann. Ethik ist darauf angewiesen, dass sich der Einzelne den Argumenten öffnet und die Bereitschaft hat, vernünftig zu handeln. «Aber man darf ihren Einfluss auch nicht unterschätzen. Man glaubt gar nicht, wie viel man mit guten Argumenten erreichen kann.» Susanne Boshammer sieht auch Vorteile darin, dass die Ethik nicht zu stark institutionell eingebunden ist: «Man kann dann wirklich frei über die Dinge nachdenken, ist weder Staat noch Kirche oder Politik verpflichtet.» Die Ethik gibt keine verbindlichen Verhaltensanweisungen, wie es etwa im Christentum die zehn Gebote sind, sondern sie überlegt und formuliert, was vernünftiges Handeln ist, und stellt damit ein Angebot zur Verfügung, das die Gesellschaft nutzen kann – oder auch nicht.
Im letzten Semester ihres Nachdiplomstudiums schreiben die Studierenden eine Diplomarbeit, in der sie ein konkretes Thema aus ihrem Fachbereich analysieren und beurteilen. Patricia Infanger untersuchte das Konzept eines Akutspitals, wie in Phasen, in denen zu wenig Personal vorhanden ist, bei der Pflege Prioritäten gesetzt werden können. In diesem Konzept werden die Patientinnen und Patienten in Kategorien eingeteilt, je nachdem, wie viel und welche Pflege sie benötigen, und es wird festgelegt, wie die Pflege eingeschränkt werden kann. Bei Patienten mit höherer Bildung zum Beispiel wird an der Information gespart, oder bei Kranken, die sich gesundheitsschädigend verhalten, werden Zuwendung und Pflege auf ein Minimum reduziert.
Infanger überprüfte an diesem Konzept, ob es einem Pflegeverständnis, das Pflege nicht nur «technisch», sondern auch ethisch versteht, noch genügt. Sie kam einerseits auf aus ethischer Sicht fragwürdige Punkte: Die Pflegenden können beispielsweise in ein Dilemma geraten zwischen den Vorgaben des Konzepts und der realen Situation am Krankenbett. Anderseits stellte sie aber fest, dass das Konzept zum Teil auch hilfreich ist. Denn es verhindert eine unsystematische, willkürliche Verteilung der Ressource «Pflege».
Vor überraschenden Ergebnissen ihres Nachdenkens sind Ethikerinnen und Ethiker nicht gefeit, denn die Ergebnisse von professionellem ethischem Denken decken sich nicht unbedingt mit den persönlichen, gefühlsmässigen Überzeugungen. Ein Arzt schrieb seine Diplomarbeit über die Frage, ob es ethisch vertretbar wäre, den Organhandel zu kommerzialisieren. Er selbst war, bevor er die Frage untersuchte, skeptisch. Er sah sich in seinem Berufsalltag jedoch immer wieder mit Patienten konfrontiert, die starben, weil für sie nicht rechtzeitig ein Organ gefunden wurde. Er kam dann in seiner Arbeit zum Schluss, dass unter klar definierten, strengen Bedingungen – optimale medizinische Versorgung, Nachbehandlung – der Handel mit Organen zulässig sein sollte. Auch Susanne Boshammer, selber Mitglied einer kantonalen Ethikkommission, hat schon ähnliche Erfahrungen gemacht. «In vielen Fragen komme ich als Ethikerin zum Schluss: Ich habe nicht das Recht etwas zu verbieten – auch wenn ich persönlich es nie tun würde.»