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Warum hat die Evolution die sexuelle Fortpflanzung hervorgebracht? Arten, die bei der Vermehrung ohne Männchen auskommen, hätten eigentlich viele Vorteile. So entfiele die kostspielige Prozedur der Partnersuche. Und da beim Nachwuchs keine Männchen hervorgebracht würden, könnte die Zahl der fruchtbaren weiblichen Nachkommen im Prinzip doppelt so hoch sein wie bei sich geschlechtlich vermehrenden Spezies. Trotzdem pflanzen sich die meisten Tiere und Pflanzen geschlechtlich fort.
In der Biologie streiten seit langem zwei Lager um die Erklärung dieses Paradoxons. Die einen, die sogenannten Mutationalisten, sehen in der Neukombination des Erbguts, wie sie bei der geschlechtlichen Vermehrung passiert, die Möglichkeit, langfristig auftretende Anhäufungen schädlicher Mutationen im Erbgut zu vermeiden. Für die anderen, die Environmentalisten, besteht der Vorteil von Sex darin, dass sich eine Spezies durch die Neukombination von Genen der sich kurzfristig ändernden Umwelt schneller anpassen kann.
Diese Erklärung der Environmentalisten wird in der «Red Queen»-Hypothese zusammengefasst. Die Rote Königin stammt aus Lewis Carrolls Märchen «Alice hinter den Spiegeln» (englisch: «Through the Looking-Glass»), wo sie den legendären Gedanken ausspricht, dass man immer weiter laufen müsse, um in ihrem Reich am selben Ort zu bleiben. Für den Paläontologen Leigh van Valen war dieser Satz 1973 das passende Bild für den evolutionären Wettlauf der Arten: Nur wer sich den andauernden Veränderungen seiner Umwelt schnell genug anpasst, hat gute Chancen, sein Erbgut an die nächsten Generationen weiterzugeben. Doch diese Hypothese hat jüngst Kratzer abbekommen. Mit ihrer in der angesehenen Wissenschaftszeitschrift «Science» (2004, Nr. 304) veröffentlichten Simulationsstudie konnten Sarah Otto von der University of British Columbia und Scott Nuismer von der University of Idaho nämlich zeigen, dass die Red-Queen-Hypothese die Entstehung der sexuellen Fortpflanzung nur in Ausnahmefällen erklärt.
Dr. Christoph Vorburger, Zoologe an der Universität Zürich, beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit Fortpflanzungssystemen im Tierreich. In seiner Forschungsarbeit untersucht er unter anderem die komplizierte Generationenfolge bei Blattläusen. «Bei diesen Tieren gibt es sowohl ungeschlechtliche als auch geschlechtliche Fortpflanzung», meint Vorburger. Im Frühjahr schlüpfen aus Eiern, die den Winter überstanden haben, nur Weibchen, die bis zum Herbst über mehrere Generationen immer wieder Weibchen gebären, und das alles ohne befruchtende Männchen. «Wenn dann im Herbst die Tage eine bestimmte Kürze erreichen, werden plötzlich auch Männchen geboren», sagt Vorburger. Aus der Paarung dieser Männchen mit den Weibchen gehen dann jene Eier hervor, die den kommenden Winter überdauern. «Das Interessante bei diesen Tieren ist nun, dass es bei einigen Arten auch Linien gibt, die sich ausschliesslich asexuell vermehren, bei denen also nicht einmal im Herbst Männchen auftreten», sagt Vorburger. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Art Myzus persicae im Süden Australiens. Bei dieser Tierpopulation lässt sich untersuchen, unter welchen Umständen sexuelle beziehungsweise asexuelle Fortpflanzung vorteilhafter ist.
«Asexuelle Fortpflanzung eignet sich besonders gut, um neue Lebensräume schnell und flächendeckend zu besiedeln», meint Vorburger. Der grosse Nachteil dabei ist jedoch, dass die gesamte Nachkommenschaft einer Mutter aus Klonen besteht, also die gleiche Erbinformation trägt. «Wenn es nun einem Parasiten gelingt, diese genetisch identische Population zu befallen, so kann er sie stark schädigen», sagt Vorburger. «Sexuelle Fortpflanzung hingegen erzeugt mit der Rekombination von Erbmaterial genetische Variation; die sorgt dafür, dass neue Genotypen zur Verfügung stehen, an die sich Parasiten noch nicht anpassen konnten», so Vorburger weiter. Jedoch besteht bei der sexuellen Fortpflanzung auch die Gefahr, dass erfolgreiche Genkombinationen beim Rekombinationsprozess wieder aufgetrennt werden.
Zu diesem Punkt haben Sarah Otto und Scott Nuismer nun Entscheidendes herausgefunden. Sie beobachteten nämlich, dass der Schaden, der durch die Aufspaltung («guter») bestehender Genkombinationen entsteht, meist grösser ist als der Nutzen durch die Bildung neuer, erfolgreicherer Kombinationen. In ihren auf der «Red Queen»-Hypothese aufbauenden Berechnungen zeigten sie, dass Sexualität nur in einem sehr engen Parameterbereich eine erfolgreiche Fortpflanzungsstrategie ist.
«Diese Studie ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Theorie und Empirie gegenseitig befruchten können», ist Vorburger überzeugt und gibt weiter zu bedenken: «So ist nun eine der wichtigen Fragen, die sich aus ihrer theoretischen Arbeit ergibt, ob sich reale biologische Populationen tatsächlich innerhalb dieses Bereichs biologischer Parameter bewegen oder nicht. Vielleicht braucht es aber auch mehr als nur eine Erklärung, um die komplizierte Evolution von Sex zu verstehen. So wird man sich in Zukunft genauer mit kurzfristigen und langfristigen Effekten bei den verschiedenen Erklärungsmodellen befassen müssen.»