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Ringvorlesung «Was ist das - die Hochschule?

«Geisteswissenschaftler erkennen Strukturen, wo andere oft nur Fakten sehen»

Geisteswissenschaften sind kostengünstig, sie leisten einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag und sie widersprechen einem kurzfristigen Nutzendenken. Diese Positionen vertraten die Zürcher Linguistin Angelika Linke und der Tübinger Philosoph Otfried Höffe an einer Diskussionsveranstaltung gestern an der Universität Zürich.
Roger Nickl

Weshalb die Artes liberales so wichtig, kostengünstig und widerspenstig sind, erörterte die Zürcher Linguistikprofessorin Angelika Linke.

Die Fama einer Krise der Geisteswissenschaften hält sich hartnäckig. Leider sind es oft nur die Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler selbst, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Kritische Stimmen etwa aus Politik oder anderen wissenschaftlichen Disziplinen fehlten weitgehend auch an der gestrigen Veranstaltung im Rahmen der von Universität und ETH gemeinsam organisierten, interdisziplinären Ringvorlesung «Was ist das – die Hochschule?». In zwei Eingangsreferaten und einer anschliessenden Diskussion nahmen der Tübinger Philosoph Otfried Höffe und die Zürcher Linguistin Angelika Linke Stellung zum Thema «Artes liberales oder Weshalb die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften so wichtig, kostengünstig und widerspenstig sind».

Die Geisteswissenschaften sind zentral in der Herstellung einer sinn- und orientierungsstiftenden Kultur der Wahrnehmung, betonte der Philosoph Otfried Höffe.

Bildungspolitische «BWL-Mentalität»

Darin, dass die Geisteswissenschaften in der Gesellschaft eine wichtige Funktion innehaben und im Vergleich etwa zur Medizin wenig kosten, waren sich die beiden Referenten einig. Wieso sie sich gegenüber einer an kurzfristigem Nutzendenken orientierten, bildungspolitischen «BWL-Mentalität» (Höffe) widerspenstig verhalten, machten die beiden Wissenschaftler in ihren Vorträgen deutlich. Otfried Höffe hob in seinem Referat mit Bezug auf Aristoteles die nutzenfreie Wissbegier des Menschen hervor, der Rechnung getragen werden müsse. Die Geisteswissenschaften seien zentral in der Herstellung einer sinn- und orientierungsstiftenden Kultur der Wahrnehmung, Erinnerung, Gerechtigkeit und des Urteilens, meinte der Philosoph. Dadurch, dass sie sich gegenüber dem Fremden öffneten und «imperiale Selbstüberschätzungen» relativierten, trügen sie wesentlich zu einer friedlichen Koexistenz in der multikulturellen, globalisierten Gesellschaft bei und seien so geradezu eine Bürgerpflicht.

«Verblüffungsresistenz»

Der Blick, den die Geisteswissenschaftlerauf die ganze Vielfalt der menschlichen Phänomene von der Kunst bis zu sozialen Systemen und ihren Traditionen werfen, führt nach Höffe zu einer positiven «Verblüffungsresistenz»: «Nicht alles, was heute neu ist, ist auch revolutionär.» Dass die Leistungen der Geisteswissenschaften auch in der Berufspraxis gefragt sind, steht für den Tübinger Professor ausser Frage: «Die Abgängerinnen und Abgänger schaffen kein akademisches Proletariat», sagte er.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften kosten vergleichsweise wenig und bieten viel, führte die Linguistin Angelika Linke aus.

«Magie des Teuren»

Bezüglich der Kosten sprach Angelika Linke in ihrem Beitrag von einer «Magie des Teuren», die heute üblich sei. «Teure Maschinen und technische Hilfsmittel scheinen - ganz nach dem Motto Qualität kostet - den Glanz von wissenschaftlichen Disziplinen zu erhöhen.» Die Geisteswissenschaften gäben deshalb wohl eher zu wenig Geld aus. Qualität wurde und werde aber dennoch geboten: Institutionen wie die philosophische Frankfurter Schule oder die Gender-Forschung hätten Gesellschaft und Universität wenig gekostet, die Leistungen, die sie für die Allgemeinheit erbracht hätten, seien aber beträchtlich. Ebenso seien geisteswissenschafliche Leitparadigmen wie der «linguistic turn» - das Bewusstsein, dass Sprache unser Denken und Wahrnehmen wesentlich prägt - auch für andere Disziplinen relevant geworden.

Kostengünstig, aber vielfältig

Im weiteren bezeichnete Linke die Forderung nach einer berufsbezogenen akademischen Ausbildung «als im Grundsatz falsch». «Uns geht es nicht um die Berufs-, sondern um die Wissenschaftspraxis», sagte die Linguistikprofessorin. Gerade das Reflektieren von gesellschaftlichen Praktiken, sozialen Institutionen und kulturellen Mustern sei aber auch in beruflichen Zusammenhängen eine zentrale Fähigkeit. Eine Qualität der Geisteswissenschaften, so Linke weiter, sei auch deren Vielfalt, zu der auch kleine Fächer wie beispielsweise die Ägyptologie beitragen. «Diese Vielfalt kostet zwar, da wir aber sonst nicht teuer sind, sollte hier investiert werden», schloss die Sprachforscherin.

Krise als Chance

In der anschliessenden Diskussion übernahm Philosophieprofessor Georg Kohler als Moderator die Rolle des advocatus diaboli: Woher stammen die Probleme?, fragte er. Vernebelt der ökonomische Diskurs unser Denken? Sind die Geisteswissenschaften so schlecht messbar? Und: Brauchen wir überhaupt so viele Geisteswissenschaftler – gehört nicht ein grosser Teil der Studierenden an eine Fachhochschule?

Geisteswissenschaftlich geschultes Denken ist in der Berufspraxis wichtig, sagte Otfried Höffe.

Die Orientierung am unmittelbar Messbaren sei bei der Sprechung von Drittmitteln ein Problem, meinte Otfried Höffe. Oft entzögen sich entscheidende Erkenntnisprozesse – man denke beispielsweise an Einstein – aber einer solchen Perspektive. Den Begriff der Krise sollte man ins Positive wenden: «Sie ist das Magma, in dem Kreativität entsteht», sagte Höffe. Linke meinte auf Kohlers letzte Frage Bezug nehmend, die Einführung von Fachhochschulen sei eine sinnvolle Ausdifferenzierung der Bildungslandschaft. Sie betonte aber auch, wie wichtig ein geisteswissenschaftlich geschultes Denken in der Berufspraxis sein könne. «Geisteswissenschaftler können Strukturen erkennen, wo andere oft nur Fakten sehen.» Offen blieb letztlich die Frage aus dem Publikum, wieso die Geisteswissenschaften trotz beträchlichem Potenzial ihre Perspektiven in der Öffentlichkeit nicht besser durchsetzen können. Das habe wohl mit der Geschwindigkeit zu tun, vermutete Angelika Linke. Heute stehe der schnelle Effekt im Vordergrund, die Geisteswissenschaften untersuchten Veränderungen aber mit einer längerfristigen Perspektive.

Roger Nickl ist unimagazin-Redaktor.

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