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Herr Sarasin, was bringt einen angesehenen Historiker dazu, sich mit Prostitution zu beschäftigen?
Prostitution ist ein Thema, das ganz zentral in Geschlechterbeziehungen und Machtverhältnisse einer Gesellschaft hineinleuchtet. Sehr viele Aspekte spielen dabei eine Rolle: medizinische, kriminalitätsgeschichtliche, geschlechtergeschichtliche, sozialgeschichtliche. Beinahe also schon ein klassisches Thema für einen Historiker…
Ihre Ausstellung stiess bereits im Vorfeld auf grosses Interesse. Überrascht?
Auch hier gilt natürlich: Sex sells. Tatsächlich ist aber Prostitution und die mediale Omnipräsenz von Sexualität in unserer Gesellschaft ein Thema, das die Leute beschäftigt. Und ich glaube durchaus, dass man als Historiker darüber nachdenken kann.
Sie beginnen Ihre Einleitung im Begleitband zur Ausstellung mit der Feststellung: «Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Prostitution.» War das Sexgewerbe damals präsenter als heute?
Strassenprostitution war damals viel häufiger. Es gab sie an der Bahnhofstrasse, im Corso, in der Tonhalle. Männliche Prostituierte trafen ihre Freier in der alten Männerbadeanstalt vor dem Bürkliplatz und an vielen anderen Orten in der Stadt. Zwar steht die Zahl von elf der Polizei bekannten Bordellen um 1890 in keinem Verhältnis zu den 300 «Sexclubs», die man heute in Zürich zählt. Aber gemessen an den moralischen Standards von damals, den medialen Möglichkeiten und der Grösse der Stadt muss man sagen, dass der Sexmarkt in Zürich beträchtlich war.
Wo bleibt da der zwinglianische Geist? Ist die sprichwörtliche Lust- und Körperfeindlichkeit des Zürcher Bürgertums schlicht eine Mär?
Es ist ein Erfolg der Sittlichkeitsbewegung, uns dieses Bild des 19. Jahrhunderts vermittelt zu haben. Der christlich-sittliche Diskurs um die Jahrhundertwende verdrängte die Prostitution langfristig aus dem Stadtbild, und er konnotierte auch Keuschheit sehr viel positiver. Das hatte grosse Auswirkungen für das 20. Jahrhundert. Erst in den sechziger Jahren hat sich der Umgang mit der Sexualität wieder zu liberalisieren begonnen. Das 19. Jahrhundert aber war durchaus auch ein genussfreudiges Jahrhundert. Das belegen etwa Karikaturen rund um die Volksabstimmung von 1897 über das Verbot der Bordelle. Diese Karikaturen im Nebelspalter oder Postillon feiern das ausschweifende Zürich, wo man sich vergnügt - das Zürich der Huren. Insofern ist unser Bild des zwinglianischen Zürich ein Klischee.
Wie hat sich unsere Wahrnehmung der Prostitution seither verändert?
Im 19. Jahrhundert war es völlig undenkbar, dass ein junger Mann aus bürgerlichen Verhältnissen vor der Ehe sexuellen Umgang mit der Frau hatte, die er liebte. Es blieb ihm nur der Gang zur Dirne. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich das geändert: Voreheliche Sexualität wurde - langsam - etwas Selbstverständliches. Damit verlor die Prostitution an Bedeutung. Heute allerdings prosperiert sie wieder - im Zeichen einer vollständig entfalteten Konsumgesellschaft, in der man sich offenbar gerne mal ein erotisches Vergnügen leistet, auch als junger Mann.
Bedient die Ausstellung voyeuristische Bedürfnisse?
Sie werden keine Puppen finden, die lustig zusammen auf einem Bett liegen. Wir machen kein Volkstheater. Dasselbe gilt für die Begleitpublikation: Es gibt wohl Abbildungen darin, aber nicht etwa schöne Toulouse-Lautrec-Zeichnungen von Bordellen oder Ähnliches, sondern beispielsweise ein schriftliches Verzeichnis der Polizei über die Bordelle in der Stadt Zürich. Dieses Stück Papier in seiner ganzen Materialität ist für uns ein Objekt, das wir befragen und das spannend ist. Wir wollen zeigen: Es gibt kein Wissen über die Zeit damals, das von den Medien abstrahieren kann. Es ist mein Credo als Historiker, die Materialität der Akten sichtbar zu machen, denn sie lässt sich nicht völlig aufheben. Auf die Sache selbst kann man nicht zurückgreifen.
Sie wollen den Besuchern eine Ahnung von der Forschungsarbeit des Historikers geben?
Es geht auch darum zu zeigen, dass man als Historiker, als Historikerin zuweilen im Staub watet, ja. (lacht)
Ausstellung und Begleitpublikation sind ein studentisches Projekt. Welche Erfahrungen machten die Studierenden dabei?
Wir mussten uns ständig fragen: Wie setzt man ein Thema in einer Ausstellung um? Welche Objekte brauchen wir, um eine Geschichte möglichst gut zu erzählen? Das war eine grosse Schwierigkeit, gerade bei diesem Thema: Der bezahlte Akt ist verschwunden. Es gibt nur noch sekundäre, tertiäre Spuren. Die Studierenden fluchten zum Teil, die Arbeit war manchmal mühsam. Nachträglich überwiegt aber - so höre ich jedenfalls - das Gefühl, dabei Vieles gelernt zu haben.