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Was ist das Wesen der Wissenschaft, welches sind ihre Werte? Wie verhalten, verändern diese sich unter dem Einfluss gesellschaftlicher und ökonomischer Ansprüche? - Grosse Fragen, die sicher nicht löst, wer mit «instruktivistischen Szenarien» ans Werk geht, wie Gerd Folkers, designierter Leiter des Collegium Helveticum, zum Auftakt der Diskussionsreihe «Wissenschaft kontrovers» festhielt. Sensibilisierung sei ein Prozess, der beiden Involvierten selbst ablaufen müsse, über den Reflex des eigenen Tuns an anderen. Die Veranstaltung kommt denn auch ohne ein Podium aus. Als Illustration dieses Settings diente eine - leider unzulängliche - Video-Projektion des etwa 130-köpfigen Publikums im AudiMax der ETH auf die Grossleinwand an der Stirnseite des Saals. Auch das «Kontrovers»-Webforum, das jetzt in Betrieb ist, steht dafür, dass es bei dieser Veranstaltung die Zuhörer selbst sind, die das Heft in der Hand haben.
Anstösse zum Thema «Wissenschaft als Wert» mussten natürlich dennoch sein. Der erste kam von ETH-Präsident Olaf Kübler. Er ortete in der «Kultur der Objektivität» die nicht verhandelbare Hauptbasis wissenschaftlichen Tuns. Diese Kultur habe in ihrer Entwicklung Regeln und Mechanismen der guten Praxis entwickelt, vergleichbar der Gesellschaft, die ihr Verhalten mittels Gesetzen reguliert. Wie hier sei natürlich auch in der Forschung die Versuchung da, die Regeln zu dehnen oder zu umgehen, wenn dadurch ein Vorteil herauszuholen ist. Für Olaf Kübler steht ausser Frage: Wo so etwas geschieht, muss strikt und konsequent geahndet werden. Denn lasse Wissenschaft auch nur den leisesten Zweifel an der Lauterkeit der angewendeten Verfahren aufkommen, untergrabe sie ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Legitimation.
Ähnlich argumentierte Uni-Rektor Hans Weder: Wahrhaftigkeit und Wahrheit seien «das Lebenselixier der Wissenschaft. Ihr Wert hat sich immer daran gemessen.» Mit wachsender Komplexität wachse auch die Abhängigkeit des Systems von der Wahrhaftigkeit der Forschenden. Wunder dürfe man aber von der wachsenden Zahl der «Codes of Conduct» nicht erwarten. Allen, die in diesem Bereich arbeiten, müsste klar werden, dass sich tragfähige Erkenntnisse und damit Erfolg nur mittels harter Arbeit einstellen. Trotzdem müsse sich laut Weder der Wissenschaftsbetrieb angesichts gravierender Fälle von scientific misconduct selbstkritischeFragen stellen: So fördere der geradezu «tierische Konkurrenzdruck» unsauberes Verhalten in der Forschung. Die Hochschulen sollten laut Weder mehr Energie darauf verwenden, Forschende vor solchem Druck zu schützen.
Ex-WWF-Geschäftsführerin Carol Franklin Engler lenkte den Blick auf die je nach Standpunkt unterschiedlichen Vorstellungen über den Wert der Wissenschaften. In der Wirtschaft hätten die Geisteswissenschaften einen schweren Stand; dort gälten die Natur- und technischen Wissenschaften offensichtlich mehr. Für die Bevölkerung sei vielfach der unmittelbare Nutzen das Kriterium für den Wert einer Wissenschaft – und andererseits die Angst vor den Risiken, welche neue Technologien mit sich bringen können, Stichwort: Gentechnologie. Tatsache sei, dass ganz bestimmte Erwartungen an die Forschung gestellt werden.
Dem gegenüber stehe die uneingeschränkte Forschungsfreiheit, wie sie etwa das Leitbild der Uni Zürich für sich postuliert. Die Forschenden wären schlecht beraten, wenn sie vor den wachsenden Ansprüchen der Bevölkerung die Augen verschliessen, meinte Carol Franklin.
«Die westliche Kultur wäre ohne Naturwissenschaften nicht denkbar“, sagte der Chemiker René Imhof, Ex-Forschungsleiter bei Roche. Von ihrer grossen Erfolgsgeschichte werde zwar gern profitiert - siehe Medizin; dennoch sei in den letzten Jahrzehnten die Kritik an der Forschung und die Skepsis, dass sie die anstehenden Probleme lösen könne, stetig gewachsen.Zudem habe das Risikobewusstsein gegenüber neuen Entwicklungen stark zugenommen. «Man muss sich dem stellen. Aber die Ironie ist doch: Wir leben vorwärts, aber wir begreifen rückwärts», umschrieb Imhof das Dilemma. Fest stehe jedenfalls, das Wissenschaft nur voranzubringen sei, indem man in sie investiere.
Seinem Part als Advocatus Diaboli fast buchstäblich gerecht wurde anschliessend der Konstanzer Wissenschaftshistoriker, Physiker und Biologe Ernst Peter Fischer: Er sei «masslos enttäuscht» vom bisher Gebotenen zum Thema «Werte der Wissenschaft» rief er in die Runde. Was dann folgte, war eine eigentliche Standpauke an die Vorredner und ihre Auffassung von Wissenschaftlichkeit. Die ETH, so Fischer, habe einmal einen berühmten Schüler gehabt: Albert Einstein. Dieser aber habe Theorien als «freie Erfindungen des menschlichen Geistes» bezeichnet.
Seither sei klar, dass Wissenschaftler den Begriff «Objektivität» eigentlich meiden sollten. Dem linearen Fortschrittsoptimismus, den René Imhof verteidigte, hielt Fischer entgegen: «Wissenschaft ist immer in die Irre gegangen.» Theoriegebäude wie die Kybernetik oder die Chaostheorie hätten sich eine Zeitlang als Renner erwiesen, bis sie wieder einstürzten. Die heutige Wissenschaft sei von der «molekularen Dominanz» geprägt - worüber man in 50 Jahren «nur noch lachen» werde.
Man konnte von Ernst Peter Fischers provokantem Einwurf halten, was man wollte: das Ziel, die Diskussion anzuregen, war voll getroffen. In der Folge war es spannend zu verfolgen, wie es über Umwege doch noch zu einer Vermittlung der scheinbar unvereinbaren Positionen kam. Dass die von Fischer ins Feld geführte universale Relativität die Wissenschaft offenbar nicht an objektiven Problemlösungen hindert, führte zum Fazit, dass wohl nicht absolute Wahrheit Ziel und Wert der Wissenschaft ausmacht, sondern primär die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen.
Eine Diskussion zu Wesen und Wert der Wissenschaft lässt es sinnvoll erscheinen, möglichst viele Facetten darzustellen, um sich dem Gesamtbild anzunähern. So wurden auch Aspekte wie der Wert der negativen Resultate angeschnitten - jener Forschung, die in wichtigen Journalen oft nicht willkommen ist, oder die Fragen, inwiefern Wissen und Macht korrelieren oder Wissen und Ethik einander ausschliessen. Wie die Wirtschaft auf die Forschung Einfluss nimmt, fiel in dieser Runde zum Leidwesen namentlich von Carol Franklin unter den Tisch. Sie beobachte hier einen «Autismus» der Forschungs-Insider, der auf Kritik von aussen kaum reagiere. - Es bleiben also viele offene Fragen. Moderator Gerd Folkers bemerkte abschliessend richtig, man habe jetzt «an der Oberfläche des Themenkomplexes gekratzt». Es gehe in den weiteren Veranstaltungen - die nächste folgt am 17. November - darum, diesen Prozess zu vertiefen.