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Im Spannungsfeld der Schweizer Mentalitäten

Mittels neuartiger grafischer Darstellungsweisen tiefere Einsichten in die Weltanschauung der Schweizerinnen und Schweizer zu ermöglichen - das ist das Ziel der Forschungsgruppe sotomo (sozialtopologische Modellierung) am geographischen Institut der Universität Zürich. Besonders aktuell sind die Online-Analyse des eidgenössischen Parlaments und der soeben erschienene «Altlas der politischen Landschaften».
David Werner

Die beiden Geographen Heiri Leuthold und Michael Hermann.

Welche Partei stimmt am konsequentesten fürs Sparen? Welche Nationalräte und Nationalrätinnen sind zugleich für mehr Bildung und für mehr Umweltschutz? Wer blockiert die gesellschaftliche Liberalisierung? Das lässt sich jetzt exakt und auf einen Blick erfassen: mithilfe sogenannter «Spinnenprofile». Sie sind allesamt auf der Web-Seite der sotomo-Gruppe einsehbar, aufgeführt unter der Rubrik «Webperlen» von Unipublic.

Erfinder dieser Grafiken sind die beidenGeographen Michael Hermann und Heiri Leuthold. Sie haben das Nationalfonds-Projekt SOTOMO (Sozialtopologie und Modernisierung) vor sechs Jahren ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist, neue Sichtweisen auf die soziale Realität der Schweiz zu eröffnen.

Zwischen erzkonservativ und linksliberal

Das ist mit der neuesten Publikation, dem soeben erschienenen «Atlas der politischen Landschaften», besonders gut gelungen. «Uns ist keine vergleichbare Arbeit bekannt», sagt Heiri Leuthold. Und in der Tat, das Buch mutet höchst originell an: Wie in jedem Atlas finden sich darin zahlreiche farbenfroh gestaltete Landkarten, mit einem entscheidenden Unterschied: Die räumliche Anordnung folgt nicht geographischen, sondern mentalen Vorgaben. Statt der vier Himmelsrichtungen, statt Längen- und Breitengraden liegt den Darstellungen als Matrix ein sogenanntes «weltanschauliches Koordinatensystem» zugrunde: Oben liegen die liberalen, unten die konservativen, links die linken und rechts die rechten Werte. Gemeinden oder Regionen beispielsweise, die immer wieder für Wirtschaftsliberalisierung und aussenpolitische Öffnung, gegen den Ausbau des Sozialstaates und gegen Restriktionen in der Migrationspolitik stimmen, finden sich in der Ecke rechts oben. Es gibt auch eine dritte Dimension: Berge deuten auf Bevölkerungsballungen hin, Täler und Ebenen auf dünn besiedelte, ländliche Regionen. So kommt es, dass etwa die Zürcher Goldküste auf der Schweizer Übersichtskarte im äussersten «Nordosten» zu liegen kommt. In der Ebene ganz im Süden, am «konservativen» Ende der Schweiz, befinden sich Gemeinden wie Muotathal und Unteriberg, im äussersten linken «Westen» Delémont und die Freiberge; in der nordöstlichen, «linksliberalen» Ecke wiederum türmen sich als mächtiges Randgebirge die Städte Genf, Lausanne, Basel, Zürich und Bern.

Die Mentalitäts-Karte der Schweiz. Die Deutschschweiz ist grün markiert, die Romandie rot und die italienische Schweiz ocker.

Überraschende Einsichten

Neben Übersichtskarten der Gesamtschweiz sind sämtliche Kantone und die beiden Städte Genf und Zürich abgebildet. Jede einzelne Karte ist durch einen hervorragend geschriebenen Kommentar ergänzt, der Interpretationen und ergänzende Informationen liefert. Man kann in diesem Atlas regelrecht auf die Reise gehen. Jede Gemeinde der Schweiz hat in diesem mentalen Koordinatensystem ihren genauen Platz. Den haben Michael Hermann und Heiri Leuthold durch Auswertung aller eidgenössischen Volksabstimmungen der vergangenen zwanzig Jahre berechnet.

Jede Karte im Atlas ist eine räumliche Anordnung unzähliger politischer Daten - die nun auf einen Blick lesbar sind und überraschende Einsichten ermöglichen: zum Beispiel, wie weit die Stadt Bern und das Emmental weltanschaulich voneinander entfernt sind; oder wie breit der Graben zwischen den italienischsprachigen Bündner Südtälern und dem benachbarten Oberengadin ist; oder wie nah sich politisch-mental die geographisch weit entfernten Randregionen des Oberwallis und des Solothurner Juras sind.

Röstigraben deutlich sichtbar

«Auch wir selbst waren bisweilen erstaunt über die Ergebnisse unserer Darstellungen», sagt Michael Hermann. Etwa über die Deutlichkeit, mit der sich der mentale Gegensatz zwischen Romandie und Westschweiz grafisch niedergeschlagen habe. Oder über die Tatsache, dass ökologische und linke Werte durchaus nicht immer zusammenfallen müssten. «Der Kanton Jura beispielsweise, der im schweizerischen Vergleich auf der äussersten Linken zu finden ist, steht ökologischen Fragen ablehnender gegenüber als das ganz rechts stimmende Appenzellerland», sagt Michael Hermann.

Am wichtigsten ist den Autoren jedoch die Erkenntnis, dass die zunehmende Mobilität in der Schweiz regionale Differenzen keineswegs verschwischt, im Gegenteil: Verwerfungen zwischen armen und reichen, aufsteigenden und absteigenden Gegenden akzentuieren sich zunehmend. In der Schweiz vollzieht sich eine regionale Entmischung der verschiedenen sozialen Schichten. Wie weit diese Entwicklung fortgeschritten ist, wie gross das Spannungsfeld zwischen Kernstädten und Agglomerationen, zwischen steuergünstigen Wohngegenden und alten Industrieregionen ist, das zeigt dieser Atlas auf frappierende Weise.

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