Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

«Abbild des Herzens»

Sie verwandeln das Völkerkundemuseum vorübergehend in ein Kunsthaus. Suishû Tomoko Klopfenstein-Arii und Sanae Sakamoto sind Meisterinnen ihres Fachs, der ostasiatischen Kalligraphie. Was die beiden japanischen, in der Schweiz verwurzelten Künstlerinnen zeigen, ist Spiegel einer mehr als 3000 Jahre alten Tradition, dabei aber alles andere als starre Litanei. Die Schreibkunst, das verdeutlicht die soeben eröffnete Ausstellung, bietet dem persönlichen Ausdruck fast unbegrenzte Möglichkeiten.
Sascha Renner

von links: der japanische Botschafter S. E. Yuji Nakamura, Suishu Tomoko Klopfenstein-Arii und Helmut Brinker, Professor an der Abteilung für Kunstgeschichte Ostasiens der Universität Zürich.

Die Ausstellung nennt sich zwar «Sho - Japanische Kalligraphien». Doch so richtig glücklich mit dem Begriff der «Kalligraphie» war an der gestrigen Ausstellungseröffnung, die aufgrund des grossen Publikumsandrangs in einen Nebenraum übertragen werden musste, keiner der Redner und Referenten. Dieses aus dem Griechischen stammende Wort, das so viel wie «Schönschreibekunst» bedeutet, könne schnell falsche Vorstellungen wecken. Wohl habe sich diese Bezeichnung im Westen für die ostasiatische Art des Schreibens mit Pinsel und Tusche eingebürgert, meinte der in Sachen Kunst äusserst versierte Botschafter Japans in der Schweiz, S. E. Yûji Nakamura. Mit Kalligraphie im europäischen Sinn habe «Shodo» (der Weg der Schreibkunst) aber rein gar nichts zu tun.

«Europäische Kalligraphie», liess der Botschafter das Publikum wissen, «ist die Kunst, Schriftzeichen möglichst sauber - nicht wirr, nicht persönlich, sondern fast maschinenhaft schön - zu schreiben. Ganz anders die japanischen und chinesischen Kalligraphien: Durch sie können wir nicht nur ästhetische Schönheit erleben, sondern auch die Persönlichkeit, den Charakter, die Gefühle oder Denkweise der Künstler kennen lernen.»

Sanae Sakamoto vor einem ihrer Werke.

Auch Helmut Brinker, Professor an der Abteilung für Kunstgeschichte Ostasiens der Universität Zürich, sieht im Niederschlag der Individualität den wesentlichen Aspekt ostasiatischer Handschriften. «Sie weisen den Weg zu einer ganz unmittelbaren Begegnung mit dem Künstler, denn in ihnen artikuliert sich dessen leiblicher, geistiger und seelischer Zustand in Raum und Zeit. So wird der ästhetische Akt des Nachvollziehens zum echten Kunsterlebnis, führt zum kongenialen Dialog mit dem Künstler und dem Werk, zur perfektenKongruenz in einem geschlossenen ästhetischen Erlebnis.»

«Trunken vom Mond» Suishu Tomoko Klopfenstein-Arii.

Wer sich auf diesen Dialog einlässt, dem bleiben die unterschiedlichen Temperamente der beiden Künstlerinnen nicht lange verborgen. Da sind die suggestiv-poetischen Tuschespuren von Suishû Tomoko Klopfenstein-Arii, stille Kraftfelder, in denen sich zwei oder mehrere Schriftzeichen immer wieder zu einem mal spannungsreichen, mal vergnüglichen Stimmungsbild fügen. «Trunken vom Mond» ist zweifellos eines der schönsten Beispiele. Im Pinselduktus drückt sich die von der Künstlerin erfasste Wesenheit der beiden Zeichen - eines für Trunkenheit, eines für Mond - als ein Wechselspiel unterschiedlicher Rhythmen und Tempi aus. So schlingert die Linie der Trunkenheit etwas zügellos, schwillt an und ab, bleibt für einen Augenblick blockiert, um gleich darauf im jähen Taumel wieder abzuheben. Der Mond seinerseits hängt schwer und tief vom Himmel, ohne seine würdevolle Eleganz einzubüssen.

Mu (Das Nichts). Sanae Sakamoto.

Dazu treten die expressiv-kraftvollen, nur schon durch ihre Grösse imposanten Arbeiten von Sanae Sakamoto in einen spannungsvollen Dialog. Der Akzent liegt hier ganz auf der spontanen Niederschrift, dem lebendigen Duktus und der Verwirklichung des Selbsts. Für Sakamoto bewirken Schriftzeichen weit mehr als nur die Übermittlung von Bedeutung. «Kalligraphie ist Seismograph von inneren Welten und Gefühlen.» Das Faszinierende liegt für sie in der Vielschichtigkeit und Spontaneität dieser Kunst. «Sie fordert die Kräfte des Geistes und des Körpers heraus und lässt sie im Bild sichtbar werden. Durch die Kalligraphie versuche ich optisch meine inneren Gedanken und Gefühle auszudrücken und zu vermitteln. Es sind dies Pinselspuren des Augenblicks, aufgestaute Momentausbrüche, welche ich letztlich spontan sichtbar mache in einem emotionalen Akt des Loswerdens.»

Tuschespuren verschleiern niemals ihren Entstehungsprozess. Nicht zuletzt darin liegt die Attraktivität dieser Werke begründet. Sie lassen ihren Werdegang als «geronnene Bewegungsspuren» (Brinker) nachvollziehen und den Betrachter somit an dem flüchtigen Schöpfungsakt teilhaben. Denn das Papier hält jeden Druckunterschied unmittelbar fest, jede Richtungsänderung, sei sie eckig oder gerundet, jedes Zögern oder Ausgleiten. Verborgen bleibt nichts. Ein «Abbild des Herzens» sei die Schreibkunst, so fasste es ein Meister schon vor Hunderten von Jahren in Worte.

Weiterführende Informationen