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«Therefore I say to you: Let Europe arise!» Noch immer hallen die vor 75 Jahren ausgesprochenen Worte Winston Churchills durch die Aula der Universität Zürich. Der Prozess der Einigung stand und steht mit dem Brexit vor immensen Herausforderungen. Das Churchill Europe Symposium des Europa Instituts hat mit Michel Barnier wohl den Mann eingeladen, der sich am intensivsten in der Thematik auskennt.
Bundesrat Ignazio Cassis erinnerte in seiner Einführung an die Umstände der berühmten Zürcher Rede Churchills. Am 19. September 1946, als Europa in Trümmern lag, skizzierte der britische Premierminister die Vision eines geeinten Kontinents. Wie Cassis betonte, war es keine offizielle Einladung, die Churchill in die Schweiz geführt hatte. Sein Besuch galt der Firma Sax Farben in Urdorf. Denn seine grosse Leidenschaft neben der Politik war die Malerei – und das beste Material kam aus der Schweiz. Auch später zeigte sich die Schweizer Politik im Umgang mit Churchill eher leidenschaftslos. So fand Mitte der 50er-Jahre ein angedachtes Treffen mit dem Aussenminister und Bundespräsidenten Max Petitpierre nicht statt. Bundespräsidenten pflegten damals nicht ins Ausland zu reisen, so die lapidare Begründung.
Auch heute noch sei das Prinzip des Bundespräsidenten als «primus inter pares» den Partnern in aller Welt schwer zu erklären, führte Cassis aus. Und doch: «Selbstbewusst und selbstlos zugleich, ist unsere Politik. Und wir sehen uns gerne in der Rolle des leidenschaftlichen Beobachters, der seine guten Dienste anbietet.»
Es sei ein sehr spezieller Tag heute, begrüsste Michel Barnier die Gäste in Zürich und die rund 350 Hörerinnen und Hörer des Webinars. Denn es sei tatsächlich sein letzter Arbeitstag für die Europäische Union. «Eine Schule der Geduld» habe er durchlaufen müssen. Viereinhalb Jahre habe der Prozess gedauert, in dem eine neue Normalität in der Beziehung zwischen zwei Partnern nach einer Scheidung ausgehandelt wurde. «Bei einer solchen Trennung gibt es eigentlich nur Verlierer», stellte der Franzose klar. Umso wichtiger seien die Leitsterne der Verhandlungen gewesen: Transparenz, gegenseitiger Respekt, Einigkeit der EU-Mitgliedsländer, Verantwortlichkeit sowie Emotionslosigkeit. «Nie ging es um Rache. Ziel war eine neue Partnerschaft nach dem Brexit.»
Die realen Konsequenzen wurden vielen erst Anfang 2020 bewusst, als der politische Brexit vollzogen war. In den verbleibenden elf Monaten sollten die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen verhandelt werden. Ein Prozess, der normalerweise Jahre dauert, musste in Rekordzeit ablaufen. Vieles stand auf dem Spiel. Doch Wesentliches konnte sichergestellt, das Schlimmste verhindert werden. Dazu gehört, dass die Rechte der im Vereinigten Königreich wohnhaften EU-Bürger sowie der Briten in der EU gewahrt bleiben. Auch werden alle bereits beschlossenen finanziellen Verpflichtungen der vormaligen EU-28 für Forschung und Landwirtschaft sowie die Wirtschafts- und Regionalpolitik eingehalten. Weiter wurde die Grenze Nordirlands zu Irland in einem speziellen Protokoll geregelt. Die Integrität des EU-Binnenmarktes sei gewährleistet, betonte Barnier. Für beide Partner sei es immer klar gewesen, dass es keine harte Grenze geben dürfe.
«Ich habe den Entscheid der Mehrheit der Briten sehr bedauert, aber immer respektiert», sagte Barnier. Dennoch sieht er den Brexit nicht nur negativ. «Es war ein Weckruf. Eine Mahnung, zusammen weiter zu arbeiten in einer sich stetig verändernden Welt.»
Auf eine Frage aus der anschliessenden Diskussionsrunde zeigte sich Barnier nachdenklich. Er frage sich, ob Europa zu wenig zugehört habe angesichts der drängenden Probleme der Menschen, die um Jobs bangen und sich von der Globalisierung verunsichert fühlen. «Ist der Primat der Austeritätspolitik zu weit getrieben worden?» Auf das Volk hören habe nichts mit Populismus zu tun. Möglicherweise müsse man gewisse Entscheidungsbefugnisse wieder an die Mitgliedsländer zurückgeben. Auch angesichts der umfangreichen Bürokratie in der EU zeigte er sich kritisch.
Dass andere Länder dem Beispiel Grossbritanniens folgen könnten, sei immer eine Gefahr, ist sich Barnier bewusst. Doch sogar Marine le Pen vom nationalistischen «Rassemblement National» habe mittlerweile aufgehört von einem Frexit zu sprechen. Eine Stärkung des EU-Binnenmarktes verspricht sich Michel Barnier durch einen «Green Deal» mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050.
Auf die Frage, ob die Schweiz Teil der EU-Vision für die Zukunft sei, lachte er und äusserte sich diplomatisch: Er wolle sich nicht einmischen in die Angelegenheiten der Schweiz. Zudem sei die EU nicht die Antwort auf alle Probleme. «Aber zusammen können wir an den Aufgaben wachsen und ein Europa schaffen, das die Welt inspiriert. Gemeinsam sind wir stärker.»