Navigation auf uzh.ch
Auf der Sonnenterrasse des Gran Cafés «Motta» am Zürcher Limmatquai. Klara Obermüller setzt sich, mit Blick auf die urbane Flaniermeile. An diesem goldenen Oktobernachmittag wird im repräsentativen Kern der Stadt fleissig promeniert und posiert. Beim Gesehenwerden muss Obermüller, die seit langem zur Schweizer Kulturprominenz gehört und im letzten Jahr mit dem Zürcher Journalistenpreis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet wurde, nicht mehr mitmachen. Ums Sehen geht es ihr allerdings mehr denn je. Erst kürzlich musste sie in der Folge einer Augenoperation erfahren, was es heisst, über Wochen weder lesen noch schreiben zu können. «Doch jetzt ist zum Glück wieder alles gut», sagt sie.
Klara Obermüller, im Frühling 80 geworden, wischt das leidige Altersthema mit einer Handbewegung vom Tisch und überreicht stattdessen ihre Erinnerungen: ihr in diesem Jahr erschienenes venezianisches Tagebuch («Die Glocken von San Pantalon», Xanthippe Verlag Zürich, 2020), in dem sie rückschauend ihre Gedanken schweifen lässt. Und weil sie sich schon seit ein paar Jahren schriftstellerisch mit ihrem Leben, ihren Erfahrungen, den ertragenen Lasten und errungenen Erfolgen auseinandersetzt, fällt es ihr im Gespräch leicht, über ihr jüngeres Ich zu plaudern.
«Sie wollen also etwas über meine Uni-Zeit wissen?» Klara Obermüller lacht: «Die hat mit völliger Ratlosigkeit begonnen!» Dass sie sich 1959 für Germanistik und Romanistik einschreibt, war anfangs nicht mehr als eine Verlegenheitslösung. «Ich hatte überhaupt keine Vorstellung von einer möglichen beruflichen Zukunft.» Auf der Höheren Töchterschule der Stadt Zürich (der heutigen Kantonsschule Hohe Promenade) seien sie von ihren Lehrerinnen, die noch «Fräulein Doktor» hiessen und allesamt ledig und kinderlos waren, auf Leistung getrimmt und zur nächsten Elite erzogen worden. Aber auf die totale akademische Freiheit, die damals an der Universität herrschte, und die mit einer weitreichenden Strukturlosigkeit einherging, hätte sie niemand vorbereitet. Auf die latente Überforderung reagiert die damals 19-jährige Klara mit Alpträumen. «Noch heute sehe ich mich durch die Universität hetzen, begleitet von der Angst, nicht den richtigen Raum zu finden, in einer falschen Vorlesung zu landen oder keinen Platz im Hörsaal zu bekommen.»
Dass in den 1960er Jahren das Deutsche Seminar hoffnungslos überlaufen ist, liegt auch am Literaturwissenschaftler Emil Staiger, einem in universitären wie kulturell interessierten Kreisen bekannten Star-Germanisten. Seine «11-Uhr-Vorlesungen» über Literatur, Kunst, Musik und Theater sind intellektuelle Happenings, zu denen Studierende, studierte und nicht studierte Leute in Scharen kommen. «Auch wenn mir sein Ton und sein Gestus immer eine Spur zu weihevoll waren: Bei Staiger habe ich gelernt, gründlich und achtsam zu lesen und der Poetik eines Textes sorgfältig hinterher zu lauschen. Diese Methode der werkimmanenten Interpretation ist mir in meiner späteren Tätigkeit als Feuilletonkritikerin übrigens sehr zugute gekommen.»
Weil Staiger 70 Doktorierende betreut und Obermüller nicht die 71. sein will, sucht sie sich einen zugewandteren Professor: Max Wehrli, Experte für die deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. In ihm habe sie einen Doktorvater gefunden, schreibt Klara Obermüller in ihrem 2016 veröffentlichten Lebensrückblick «Spurensuche», «der mir mit dem Dissertationsthema ‹Melancholie in der deutschen Lyrik des Barocks› eine Aufgabe gestellt hatte, die meinem weit über das Literarische hinausgehenden Interessen an psychologischen und philosophischen Fragen entgegenkam. Wie jedoch aus all dem Wissen jemals ein lebenstauglicher Beruf werden sollte, war mir völlig schleierhaft.»
Zum Journalismus kommt Klara Obermüller dann mehr oder weniger durch Zufall. Ein Kommilitone vermittelt ihr ein Volontariat bei der international renommierten Kunst- und Kulturzeitschrift «Du». Instinktiv spürt sie, «dass mein Leben soeben eine entscheidende Wende genommen hatte». Die ins Auge gefasste Doktorarbeit wird kurzerhand auf Eis gelegt, denn «jetzt begannen die wichtigsten Lehrjahre meiner beruflichen Laufbahn». Während dieser Zeit, so beschreibt sie es in «Spurensuche», sieht sie ihren ersten Artikel gedruckt, isst ihren ersten Kaviar, trinkt ihren ersten Absinth, schüttelt dem ersten Grafen aus altem Geschlecht die Hand und unternimmt die erste grosse Reportagereise. «Ich war wie ein Schwamm, der alles aufsaugt, was sich ihm bietet.»
Dennoch verlässt sie die Redaktion, um endlich ihre Doktorarbeit abzuschliessen und Examen zu machen. Weil sie mittlerweile verheiratet ist und Geld verdienen muss, tritt sie eine Halbtagsstelle bei der NZZ an, schreibt vormittags Buchrezensionen und nachmittags über den zwischen verschiedenen Disziplinen fluktuierenden Begriff der Melancholie. «Im Nachhinein bin ich froh, dass ich das Studium nicht abgebrochen habe», sagt Klara Obermüller bei unserem Treffen. «Als Frau hat es mir ab und zu geholfen, mit dem Doktortitel zu winken.»
Sie macht dann schnell Karriere bei der NZZ, wird die Zeitung aufgrund ihrer Beziehung zu dem als linksradikal verschrienen Schriftsteller Matthias Diggelmann jedoch bald wieder – nicht ganz freiwillig – verlassen. Sie schlägt sich als freie Journalistin durch und schreibt für Frauenzeitschriften wie für das FAZ-Feuilleton unter Marcel Reich-Ranicki. Später wird sie Jurorin des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und Kritikerin beim «Literarischen Quartett». Als sie 1980 bei der «Weltwoche»-Redaktion eintritt, erschliessen sich ihr neue gesellschaftspolitische Themen, jenseits von Ressortgrenzen: Aids, Antisemitismus, die katholische Kirche. «Bei der ‹Weltwoche› hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, mit meinem Schreiben etwas zu bewirken.» Für ihre «Verdienste, die sie sich durch ihre schriftstellerische und journalistische Arbeit über Themen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, der Religion und der Akzeptanz von Minderheiten erworben hat» wird Klara Obermüller 2010 die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät verliehen.
Wo andere es sich schon Jahre vor der Pension gemütlich machen, wählt Obermüller zum Karriereende noch einmal die ganz grosse Herausforderung: Als Moderatorin der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» bringt sie über sechs Jahre hinweg Mensch zum Nachdenken und Reden: Schriftstellerinnen, Hirnforscher, Politikerinnen, Nobelpreisträger.
Die Frau, die die literarische und publizistische Öffentlichkeit der Schweiz in den letzten 50 Jahren massgeblich mitgeprägt hat, kommt allmählich ans Ende des Erzählens. Freundlich fragt sie: «Haben Sie genug gehört?» Nein, eigentlich nicht. Wir machen dennoch Schluss, auf der Terrasse wird es auch langsam kalt. Den Rest, die Details, die Fragen an ihr eigenes Leben kann man ja später noch in ihrem autobiografischen Buch nachlesen. («Spurensuche», Xanthippe Verlag Zürich, 2016)