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Die wenigsten Menschen wissen, was sich hinter den vier Buchstaben SHCS verbirgt. Auch die Bezeichnung Schweizerische HIV Kohortenstudie hilft vielen nicht weiter. Was ist schon eine medizinische Kohorte? Doch hinter Kürzel und Begriff steckt eine der grössten klinischen Erfolgsgeschichten der Schweiz – die systematische Erfassung und Beobachtung aller Menschen, die sich mit dem HI-Virus infizieren, eben der HIV-Kohorte.
Der renommierte Aids-Spezialist Ruedi Lüthi initiierte bereits 1984 die Zusammenarbeit verschiedener klinischer Zentren in der Schweiz, 1988 wurde die Swiss HIV Cohort Study (SHCS) gegründet, dank langfristiger Planung und Finanzierung des Bundesamts für Gesundheit. Die Absicht: Alle epidemiologischen und klinischen Daten zur Verbreitung des Virus und der Behandlung der Patientinnen und Patienten schweizweit zu erfassen. Zusätzlich wurde eine Biobank mit über 1.7 Millionen Proben aufgebaut. Heute, fast 40 Jahre nach dieser weitsichtigen Entscheidung, gibt es die HIV-Kohortenstudie immer noch. Und der Schweizerische Nationalfonds hat eben entschieden, auch die nächsten 3.5 Jahre mit 8.75 Millionen Franken zu finanzieren.
«Ich freue mich riesig über diese gute Nachricht aus Bern», sagt Huldrych Günthard, Professor für klinische Infektiologie an der UZH und Präsident der SHCS. Das Zürcher Universitätsspital, wo Günthard an der Klinik für Infektionskrankheiten arbeitet, steuert mit knapp 2000 Personen die grösste Gruppe Betroffener zur Kohortenstudie bei. Sie umfasste per Ende 2020 schweizweit mehr als 21'000 Menschen, die sich im Verlauf der Jahre seit 1988 mit dem HI-Virus infizierten. Von dieser übergreifenden Kohorte ist rund ein Viertel gestorben, ein weiterer Viertel ist aus der Studie ausgestiegen. Aktiv verfolgt werden zurzeit rund 10'000 Personen.
Günthard kommt in Fahrt, wenn er vom Nutzen spricht, die diese Studie gehabt hat und weiterhin hat: Er erwähnt die Anpassungen der Therapie, die sich dank neuer Wirkstoffe aus der Pharmaindustrie laufend verbesserte und die es heute erlauben, eine HIV-Infektion als chronisches Leiden zu therapieren. Das war zu Beginn der HIV-Pandemie völlig anders, die Menschen starben. Wirkstoffe fehlten und die Ärztinnen und Ärzte mussten sich in jahrelanger Arbeit an die besten Therapien herantasten. Die klinischen Daten der SHSC waren dabei essentiell, denn sie erlaubten es, verschiedene Therapien gegeneinander abzuwägen.
Ein Meilenstein, der weltweit Beachtung fand, war eine SHSC-Publikation im British Medical Journal 1997, in der erstmals die Erfolge von Kombinationstherapien im Vergleich mit Monotherapien ausserhalb von klinischen Studien belegt werden konnten. Die Studie stand am Anfang der Tripletherapien, die HIV-Infektionen gut unter Kontrolle bringen und heute teils wieder auf 2er-Therapien vereinfacht werden. «Die Schweizerische HIV-Kohorten-Studie hat mehr als 1200 wissenschaftliche Publikationen ermöglicht und die Schweiz als wichtigen Player in der HIV- und Aids-Forschung etabliert», sagt Huldrych Günthard. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie aus der Verzahnung von Grundlagenforschung und klinischer Forschung Fortschritte in der Behandlung entstehen – was unter dem Schlagwort translationale Forschung heute in aller Munde ist.
Huldrych Günthard ist bei Ruedi Lüthi Ende der 1980er Jahre in die HIV- und Aidsforschung eingestiegen und hat sich während eines grossen Teils seines bisherigen Berufslebens mit diesem Virus beschäftigt. Antiretrovirale Therapien, Übertragungs- und Resistenzmechanismen, neutralisierende Antikörper, Auswirkungen auf Hepatitis C – es sind unzählige Fragestellungen, an denen er gearbeitet hat und arbeitet. Zusammen mit tausenden von Kolleginnen und Kollegen weltweit gehört er sozusagen zur Generation der Aids-Forscher, die basierend auf dem Virus ihre Karriere aufgebaut haben.
«Das HI-Virus gilt als das wahrscheinlich best untersuchte Virus überhaupt», sagt Günthard und schlägt eine Brücke zu Covid-19: «es dürfte in dieser Hinsicht wohl bald von Sars-CoV-2 überholt werden, das einen wahnsinnigen Forschungsboom ausgelöst hat.» Der Infektiologe betont die Bedeutung der HIV-Erkenntnisse für die aktuelle Covid-19-Pandemie: «Besässen wir nicht die jahrelangen Erfahrungen mit dem HI-Virus, hätten wir nicht derart schnell Fortschritte im Verständnis und der Bekämpfung dieses neuen Erregers gemacht.»
Das beginnt bei den PCR-und Antikörpertests für das neue Virus, die zum Beispiel am Institut für medizinische Virologie der UZH in Rekordzeit entwickelt wurden. Das zeigt sich in den Arbeiten für Impfstoffe, die in Rekordzeit auf dem Tisch lagen. Auch das Aufspüren von mutierten Varianten etablierte sich bei HIV, die dazu entwickelten Methoden kommen nun der Covid-Forschung zugute. Dank HIV besteht zudem viel Fachwissen über die entscheidenden biochemischen Indikatoren zur Kontrolle des Infektionsverlaufs. Dies trotz den biologischen Unterschieden, denn als Retrovirus besitzt das HI-Virus einen grundsätzlich anderen Mechanismus und kann sich in den befallenen Zellen im Genom verstecken.
Dennoch seien die Erfahrungen mit der HIV- und Aids-Pandemie für die Bewältigung der aktuellen Lage unbezahlbar, betont Günthard. Das zeigt sich auch an den Fachleuten, die heute die Covid-19-Massnahmen in der Schweiz prägen: Erstautor der BMJ-Studie 1997 war ein gewisser Matthias Egger, ehemaliger Leiter der aktuellen Science Task Force, Letztautor war der Infektiologe Manuel Battegay – auch er Mitglied dieser Task Force.
Wie stark die Forschung über Sars-CoV-2 von der HIV und der Kohortenstudie profitiert, zeigt das neuste Projekt von Huldrych Günthard und Kolleginnen und Kollegen, das ebenfalls vom SNF finanziert wird. Geplant sind Studien bei HIV-infizierten Menschen, die sich wegen der neuen Pandemie auch mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Günthard rechnet mit rund 1000 bis 1500 Personen aus der HIV-Kohorte, die betroffen sein dürften. Bei ihnen sollen unter anderem die gegen Sars-CoV-2 gebildeten Antikörper detailliert analysiert werden, was es erlauben wird, die Immunantwort mit derjenigen gegen HIV zu vergleichen und besser zu verstehen.
Weil über die Personen der HIV-Kohorte detaillierte, langjährige Dokumentationen über ihre Immunreaktionen existieren, können die Covid-19-Verläufe weitgehender analysiert werden. Zudem lassen sich auch Schlüsse zur Wirksamkeit antiretroviraler Medikamente gegenüber Sars-CoV-2 und Long Covid ziehen. «Es gibt eine Unzahl spannender Fragen, die dank der Daten aus der Kohortenstudie untersucht werden können», sagt Günthard. Das Datenzentrum der SHCS, an dem sieben grosse Kliniken, 14 Regionalspitäler und 48 Privatärzte aus der Schweiz beteiligt sind, befindet sich an der UZH und wird von der HIV-Forscherin Katharina Kusejko geleitet.
Niemand hat damit gerechnet, dass die HIV-Kohortenstudie in diesem Umfang für eine andere Pandemie nützlich sein könnte, was die visionäre Sicht, ein solches Unterfangen zu beginnen, unterstreicht. Aber auch ohne diesen Zusatznutzen bleibt die wegweisende Studie wichtig. Denn HIV lässt nicht locker: In der Schweiz infizieren sich noch immer 400 - 500 Menschen jährlich mit dem HI-Virus und knapp 100 zeigen Symptome von Aids.
Eine Heilung gibt es auch nach Jahrzehnten der Forschung nicht, aber die heutigen Medikamentenkombinationen halten das Virus derart gut in Schach, dass es selbst im Blut Infizierter nicht mehr nachgewiesen werden kann. Diese Menschen sind dann auch nicht infektiös, was zeigt, dass eine optimale Therapie die beste Prävention darstellt. «Wenn wir diesen Standard halten wollen, bleibt die Kohortenstudie auch in Zukunft unverzichtbar», betont Infektiologe Günthard mit Blick auf die nächste Finanzierungsrunde.