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In den letzten Jahren hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in Finanzinstitute, Behörden und Unternehmensleiter gelitten. Viele Menschen sind der Meinung, dass hochrangige Wirtschaftsakteure nahezu alles tun, um Gewinne zu erzielen, und dabei auch bereit sind, ihre Mitmenschen zu schädigen.
Ein anderes Bild zeigt sich in der modernen Verhaltensökonomie und -psychologie: Aus Studien geht hervor, dass Menschen Geldgewinne bereitwillig mit anderen teilen, sich sehr oft grosszügig verhalten und Ungleichheit ablehnen. Jüngste Laborexperimente zeigen, dass das Niveau der Unehrlichkeit erstaunlich niedrig ist. Menschen sind also durchaus auch prosozial und betrügen, wenn sie die Möglichkeit haben, nur moderat.
Wie passen diese beiden Tendenzen zusammen? Verhalten sich hochrangige Wirtschaftsakteure anders als die durchschnittliche Bevölkerung? Um das herauszufinden, entwickelten Carlos Alós-Ferrer, NOMIS Professor für Entscheidungs- und Neuroökonomische Theorie an der Universität Zürich, und sein Team das «Big Robber Game», ein Experiment mit 640 Teilnehmenden. Die stichprobenartig ausgewählten Studierenden wurden in Gruppen von 32 Personen eingeteilt, die alle eine Tätigkeit ausübten und den gleichen Geldbetrag verdienten. Jeder zweite Teilnehmende wurde gefragt, ob er oder sie anonym die Hälfte des Verdienstes von 16 anderen Gruppenmitglieder stehlen wurden, aber nur die Entscheidung einer Person der 16 sogenannten «Räubern» wurde tatsächlich ausgeführt, was ungefähr einem Gesamtbetrag von 100 Euro entsprach. Die «Räuber» konnten aber auch weniger stehlen: zum Beispiel ein Drittel, ein Zehntel oder gar nichts. Wie verhielten sich die «Räuber»?
Mehr als die Hälfte von ihnen ging bis zum Äussersten und nahm sich das Maximum – die Hälfte der Einnahmen aller anderen Gruppenmitglieder. Über 80 Prozent stahlen ein Drittel oder mehr, fast niemand lehnte den Betrug gänzlich ab. Die Studierenden zeigten somit eine erstaunlich hohe Bereitschaft, mehreren Personen einen erheblichen finanziellen Schaden zuzufügen. Ausserdem entschieden sie sich im Durchschnitt viel schneller dazu, den Maximalbetrag einzukassieren, als dies zu unterlassen – was auf wenig ausgeprägte moralische Zweifel hindeutet.
Dieselben Studienteilnehmenden zeigten bei standardmässigen Laborspielen im Zweierteam jedoch ein überwiegend prosoziales Verhalten. Bei Entscheidungen, ob oder wie sie 10 Euro teilen wollten, überliessen sie ihrem Mitspieler meist freiwillig Geld. Dies, obwohl sie wussten, dass das Gegenüber sich nicht wehren konnte. Die Teilnehmenden lehnten so generelle Ungleichheit ab. «Dieselben Personen verhielten sich egoistische bei weitreichenden finanziellen Entscheidungen, die eine Gruppe betrafen, und grosszügig bei bilateralen Interaktionen, bei denen wenig auf dem Spiel stand», fasst Alós-Ferrer zusammen. Dieses Verhalten der Studienteilnehmenden trat ohne signifikante Unterschiede in Bezug auf Geschlecht oder Studienfach auf. «Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass hochrangige Wirtschaftsakteure grundsätzlich anders handeln. Die Wurzeln für einen finanziellen Missbrauch scheinen in uns allen angelegt zu sein.»
Dass Menschen sich gegenüber einer grossen Gruppe egoistisch verhalten, während sie Einzelpersonen gegenüber grosszügig sind, lässt vermuten, dass es einfacher ist, mehreren Personen zu schaden als nur einer. Dies steht im Einklang mit bisherigen Erkenntnissen, dass man eher bereit ist, Einzelperson zu helfen als einer Gruppe. Laut den Studienautoren spiegelt sich in den Ergebnissen auch der Kompromiss zwischen persönlichem Gewinn und Rücksichtnahme: Wenn man einen bestimmten Geldbetrag von einer einzelnen Person stiehlt, entsteht eine grosse Ungleichheit. Eignet man sich denselben Geldbetrag von eine ganze Gruppe an, ist die Ungleichheit viel geringer. Anders ausgedrückt: Es zahlt sich monetär viel mehr aus, die eigene grundsätzliche Ablehnung gegenüber Ungleichheit zu überwinden, wenn man eine Gruppe bestiehlt. Und es lässt sich innerlich eher rechtfertigen. Alós-Ferrer: «In gewissen Situationen scheinen Entscheidungsträger für ihren eigenen Vorteil eher dazu bereit, mehreren Menschen erheblichen Schaden zuzufügen, solange der Gewinn gross genug ist. In westlichen Gesellschaften können dafür erstaunlicherweise bereits 100 Euro ausreichen.»
Carlos Alós-Ferrer, Jaume García-Segarra, Alexander Ritschel. Generous with individuals and selfish to the masses. Nature Human Behaviour. 29 July 2021. DOI: 10.1038/s41562-021-01170-0