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Das Erste, was an Renate Lemmer auffällt, ist ihr Temperament. Sie weiss um ihren lebhaften Auftritt, ihr energetisches Wesen. «Das ist das feu sacré, das in mir brennt», kommentiert sie lächelnd und hebt machtlos die Hände.
Tatsächlich ist es mit ihr ein bisschen so wie mit Goethes Faust und dessen Zwei-Seelen-Dilemma. Da ist, von klein auf, ihr riesiger Wissensdurst, ihr Bedürfnis nach intellektueller Herausforderung. Gleichzeitig und ebenso stark verspürt sie einen Drang zu künstlerischem Ausdruck und sinnlichem Erleben. Während der Kindheit kooperieren die beiden Grossmächte in ihrem Inneren noch problemlos miteinander, doch nach der Matura muss eine Entscheidung her. Theorie oder Praxis? Universität oder Kunstschule? Lehrerin werden oder lieber Malerin? Die 19-Jährige ringt mit sich. Da fällt ihr aus heiterem Himmel ein Erlebnis aus der Sekundarschulzeit ein: Mendelssohns Violinkonzert, eine Tonhallen-Aufführung für Schüler, sie selbst in der ersten Reihe, völlig hingerissen. Ein Schlüsselerlebnis, das mit einem Mal seine volle Wirkung entfaltet. Lemmer weiss jetzt, was sie werden will: Musikerin, genauer: Querflötistin. «Ein Entschluss, der in meinem Unterbewusstsein wohl schon länger vor sich hingärte.»
Also bleibt die Zürcherin in ihrer Heimatstadt und studiert das Instrument, das ihr schon als Kind liegt. «Für die Blockflöte war ich nicht geeignet, ich habe immer viel zu laut geblasen. Bei der Querflöte konnte ich dann endlich meinen grossen Atem loswerden.» Lemmer besucht fünf Jahre lang das Konservatorium Zürich, besteht das Lehrdiplom, hängt noch drei weitere Studienjahre bis zur Konzertflötistin an, feilt an ihrem Repertoire, gibt Konzerte im In- und Ausland und unterrichtet parallel, erst am Konservatorium Bern, später an der Musikschule Basel. Und dann, zehn Jahre nach der ersten beruflichen Orientierung, holt sie das faustische Dilemma erneut ein: Soll sie ihrer Hingabe ans Instrument nachgeben und sich weiter ausbilden lassen zur Soloflötistin? Oder ihrem Kopf folgen, der vehement nach Kraftfutter verlangt?
Nach ihrer Erfahrung in der Musikpraxis entscheidet sich Renate Lemmer nun für die Theorie. Als sie 1992, mit 30 Jahren, an die Universität Zürich kommt, ist sie intellektuell ausgehungert. «Für mich ist die UZH daher eine wahre Alma Mater. Sie hat mich aufgepäppelt und acht Jahre lang sehr gut genährt.» Renate Lemmer belegt Musikwissenschaft im Hauptfach. Zum ersten Mal hat sie das Gefühl, ihre beiden widerstreitenden Lebensthemen vereinen zu können.
Ihr Jahrgang ist klein, höchstes 20 Studierende, dafür sehr divers: «Die meisten kamen direkt vom Gymnasium, es gab aber auch einige Seniorinnen und Senioren und eine Reihe Schulmusiker vom Konservatorium. Wir waren ein generationendurchmischter Haufen Gleichgesinnter.» Anders sieht es unter den Lehrenden aus: «Das waren, mit Ausnahmen, ältere Herren mit dezidiertem Rollenverständnis.» Lemmer fühlt sich als ausgebildete Musikerin zwar anerkannt und wertgeschätzt, stösst aber mit ihrem Anspruch, sehr selbständig zu arbeiten, auf wenig Gegenliebe. «Einige Professoren wollten mehr um Rat gefragt werden», sagt Lemmer und ergänzt selbstkritisch: «Vielleicht hätte ich diesbezüglich Verständnis entwickeln müssen.»
Auch als Studentin arbeitet Renate Lemmer zwei Tage in der Woche als Querflötenlehrerin in Basel und gibt parallel dazu Konzerte, die restliche Zeit aber verbringt sie gerne im musikwissenschaftlichen Institut. Damals sind die Unterrichtsräume, die Bibliothek und das Schallarchiv noch in einem Gebäude im Rechberg-Garten untergebracht, einer spätbarocken Palais-Anlage zwischen Hirschengraben und Schönberggasse unterhalb des UZH-Hauptgebäudes. «Dort habe ich während meiner Lizenziatsarbeit viel Zeit verbracht.»
Schon früh im Studium weiss Lemmer, mit welchem Thema sie sich intensiv beschäftigen will: mit der Avantgarde in der Musik. In ihrem ersten Nebenfach Germanistik leistet sie einige Vorarbeit und untersucht den Begriff aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Was sie schliesslich auf über 120 Seiten zu Papier bringt und als Liz-Arbeit unter dem Titel «‹Avantgarde›. Bedeutung und Problematik des Begriffs in der Musik des 20. Jahrhunderts» einreicht, beleuchtet die verschiedenen Wellen von rebellischer, innovativer und experimenteller Musik, vom Expressionismus über die Zwölftonmusik bis hin zur Serialität.
Renate Lemmer erinnert sich gern an ihre Studienzeit: «Die acht Jahre an der UZH habe ich voll ausgekostet.» Und obwohl sie sich mit dem Studium eigentlich nur etwas gönnen wollte, hat sie viel Lehrreiches mit in den Beruf genommen. Insbesondere von ihrem zweiten Nebenfach, Pädagogische Psychologie und Didaktik, profitiert sie in ihrer aktuellen Arbeit als Dozentin für Querflötendidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Der Transfer in die eigene didaktische und künstlerische Arbeit, in die Normalwelt ausserhalb des universitären Kosmos, ist für Lemmer eine angenehme Herausforderung. «Mittlerweile ist es für mich ein Genuss, Theorie und Praxis zu verbinden. So komme ich auch als Bühnenmusikerin leichter in den freien musikalischen Fluss.»
Mit Goethes Faust, wir wissen es, ist es nicht gut ausgegangen. Renate Lemmer hat zum Glück Frieden geschlossen mit ihren zwei Seelen.