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Herr Sigel, seit gut drei Monaten überschattet die Coronaviruskrise praktisch sämtliche universitären Aktivitäten. Umso wichtiger ist es, auch über positive Entwicklungen zu berichten: Die UZH erreichte im letzten Shanghai-Ranking erneut ausgezeichnete Plätze in mehreren MNF-Disziplinen. Sind Sie zufrieden?
Es ist jeweils sehr erfreulich, wenn man vorne mit dabei ist – mit aller Vorsicht, die man gegenüber solchen Rankings haben muss. Die UZH befindet sich in Humanbiologie, Ökologie und Fernerkundung unter den 20 weltbesten Universitäten. In Medizintechnologie, Geografie, Biowissenschaften, Biomedizintechnik und Mathematik sind wir international unter den 50 Top-Hochschulen.
Was ist das Erfolgsrezept?
Diese Resultate spiegeln die ausgezeichneten Bedingungen an der UZH wider, dank denen wir hervorragende Forschende anziehen können. Wir bewegen uns aber international in einem sehr kompetitiven Umfeld. Es gilt, dieses sehr gute Niveau mindestens zu halten. Steigen die Studierendenzahlen, müssen auch Lehrkräfte, Infrastruktur und alle weiteren Voraussetzungen für Forschung und Lehre mitziehen. Nur so können wir auch weiterhin vorne mit dabei sein und die besten Forschenden anziehen.
Welche Erfolgsfaktoren stehen im Vordergrund?
Ein riesiger Vorteil, den wir hier am Campus Irchel haben, ist die unmittelbare Nähe der Forschenden aus unterschiedlichen Disziplinen wie medizinische Grundlagenforschung, Vorklinik und Veterinärmedizin, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften. Zentral sind auch die gute Infrastruktur und die Freiheit der Forschung.
Die MNF ist begehrt: 70 Prozent mehr Studierende innerhalb von 15 Jahren.
Das ist eine super Entwicklung! Das grosse Interesse an den MINT-Fächern freut uns sehr. Es entspricht einerseits einem Trend in der heutigen Gesellschaft. Andererseits wissen viele jungen Menschen, dass die Schweiz diese Fachkräfte unbedingt braucht.
Was macht ein Studium an der MNF attraktiv?
Die MNF-Studiengänge orientieren sich stark an den Life Sciences und sind weniger technisch-mathematisch als etwa an der ETH Zürich. Zudem sind sie flexibel gestaltbar. Zu Beginn gibt es zwar viele Pflichtmodule, aber je länger das Studium dauert, desto freier werden die Studierenden, ihre eigenen Module zusammenzustellen. Im Bachelorstudium können sie 60 von 180 ECTS-Punkten in ein frei wählbares Nebenfach – auch an einer anderen Fakultät – investieren. Diese Freiheit schätzen die Studierenden sehr. Und sie fördert die Interdisziplinarität, was für uns absolut essenziell ist.
MINT-Fächer gelten oft als «Männersache». Können Sie dieses Bild bestätigen?
Nein, wir haben mit gut 50 Prozent einen erfreulich hohen Anteil an Frauen – Tendenz steigend. Je nach Fachrichtung gibt es allerdings grosse Unterschiede. Im Studiengang Biomedizin sind 83 Prozent Frauen. In Biologie haben wir einen Frauenanteil von 64 Prozent, in Geografie sind es 49 Prozent, in Mathematik 44 Prozent, in Chemie und Biochemie 42 Prozent und in Physik 27 Prozent.
Rund 4'600 Studierende sind aktuell an der MNF. Was bedeutet der starke Zulauf für die Betreuung?
Die MNF ist die am schnellsten wachsende Fakultät der UZH. Allerdings hat die Anzahl Professuren und Mittelbaustellen nicht entsprechend zugenommen. Das heisst, dass sich das Betreuungsverhältnis stetig verschlechtert hat. 2010 betrug dieses noch knapp 39 Studierende pro Professor, heute kommen gut 42 Studierende auf eine Professorenstelle.
Was unternimmt die MNF dagegen?
Zum Teil ist es uns gelungen, diese Entwicklung aufzufangen, indem wir erfolgreich Drittmittel einwerben konnten – vor allem vom Schweizerischen Nationalfonds und vom Europäischen Forschungsrat. 17 von insgesamt 115 MNF-Professuren, also ohne Doppelprofessuren, werden via Drittmittel finanziert. Doch diese Professoren müssen in erster Linie Forschung betreiben und nicht primär die Lehre auffangen. Irgendwann werden wir bei den Drittmitteln die Grenze erreichen.
Welche weiteren Möglichkeiten haben Sie?
Wir arbeiten daran, das System der Neubesetzung von Professuren zu flexibilisieren. Wird eine Kollegin oder ein Kollege emeritiert, soll der Lehrstuhl nicht mehr automatisch neu besetzt werden. Das gesamte freie gewordene Lehrstuhlgeld soll stattdessen in einen Topf kommen, aus dem wir neue Professuren schaffen. Einerseits, um unseren eigenen Nachwuchs zu fördern, und andererseits, um gewisse Neubesetzungen vorzuziehen. Diese Lösung gibt uns mehr Flexibilität, um dort zu investieren, wo es nötig ist. Aus einer ordentlichen Professur mit einem grossen Lehrpensum könnten so zwei Assistenzprofessuren mit kleinerem Lehrpensum entstehen.
Tangiert der Zulauf von Studierenden die Lehre?
Das müssen wir unbedingt vermeiden. Ziel ist es, das hohe Niveau mindestens zu halten. Aber mit den bestehenden Mitteln sind unsere Möglichkeiten bald ausgeschöpft. Die Situation wird durch die Unsicherheit der Coronavirus-Pandemie noch weiter verschärft, vor allem da wir im Herbstsemester 2020 eine überproportional grosse Zahl an Studienanfängern erwarten.
Haben Sie genügend Geld, um das hohe Niveau sicherzustellen?
Angesichts der Situation an der MNF hat die Universitätsleitung beim Universitätsrat eine Erhöhung des Kostenbeitrags für die Unterstützung der MINT-Fächer beantragt. Denn in den letzten zehn Jahren hat eine Verlagerung der UZH-Studierenden von den Geistes- und Sozialwissenschaften zur Medizin und den Naturwissenschaften stattgefunden. In der Medizin wurden dafür 72 zusätzliche Studienplätze geschaffen, die der Kanton durch höhere Beiträge mitfinanziert. Für das Studierendenwachstum an der MNF standen bislang keine Zusatzmittel zur Verfügung. Wir hoffen, dass der Kanton den Entwicklungen an der UZH gegenüber offen ist und zusätzliche Mittel investiert.
Ein Studium in MINT-Fächern braucht viel Infrastruktur. Hält die Entwicklung von Gebäuden und Einrichtungen Schritt?
Nein, im Normalbetrieb herrscht Platzmangel. Vor allem bei den Bauten haben wir grossen Aufholbedarf. Hier ist die Politik gefragt, diese baulichen Massnahmen, die wir brauchen, konsequent zu unterstützen: die Rennovation alter Gebäude und Neubauten auf zusätzlichen Flächen
Wie gehen Sie unter normalen Umständen mit dem Platzmangel um?
Wir setzen viele Podcasts zur Unterstützung ein, führen Videoübertragungen von Vorlesungen in andere Hörsäle durch, und müssen gewisse Vorlesungen doppelt führen. Durch die coronavirus-bedingte Umstellung auf Online-Formate haben wir diesbezüglich in den vergangenen Monaten sehr viele Erfahrungen gesammelt. Im Normalbetrieb jedoch sind unsere Hörsäle von Montag bis Freitag fast durchwegs belegt. Gewisse Grundlagenpraktika mussten wir vom ersten ins zweite Semester verschieben. Nur wer das erste Semester besteht, kann im zweiten die Praktika besuchen. Das hat die Situation etwas entspannt. Aber wir sind an der Grenze des Machbaren angelangt.
Wird die Platzproblematik durch die Gymnasiasten, die von 2024 bis 2033 auf dem Campus Irchel sein werden, noch verschärft?
Ich denke nicht. Aufgrund der Zwischennutzung von zwei Gebäuden durch drei Kantonsschulen ist mit dem Regierungsrat vereinbart worden, dass gewisse Neubauten vorgezogen werden, und dass es Ersatzbauten, insbesondere Büroprovisorien geben wird. Ich sehe diese Zwischennutzung als Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Dank der Nähe erhalten wir Zugang zu den Gymnasiasten und können ihnen schon während der Schule die Naturwissenschaften und unsere Forschung zeigen. Wir freuen uns auf diesen Austausch.
Wie profitiert die Gesellschaft von den Investitionen in die UZH?
Bildung, Forschung und Innovation sind die grössten Stärken, die wir in der Schweiz haben. Aus jedem Franken, der in die UZH investiert wird, resultiert in der gesamten Wertschöpfungskette ein Mehrwert von vier Franken, was enorm ist. In den letzten 20 Jahren wurden an der UZH mehr als 100 Spin-off-Firmen gegründet, die basierend auf UZH-Technologien neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln und damit Arbeitsplätze schaffen. Ein grosser Teil dieser Spin-offs – vor allem in den Bereichen Biotech oder Medtech – wurden von ehemaligen MNF-Forschenden mitgegründet.