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Literaturwissenschaft

Theater der Leidenschaft

Medizinische Shows und seelische Leiden, die sich in Körpersymptomen ausdrücken: Die Germanistin Sophie Witt erforscht die Geschichte einer faszinierenden Liaison von Theater und Psychosomatik.
Simona Ryser

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Sophie Witt
Sophie Witt ist auf dem Weg zu ihrer Professur

An der Garderobe hängt eine Papiertüte des Wiener Freud-Museums mit der Aufschrift «Die Traumdeutung» von Dr. Sigm. Freud – ein schöner Reprint der Titelseite einer historischen Ausgabe. Sophie Witt lacht schallend, ja, die Papiertasche musste sie einfach mitlaufen lassen. War doch Freud die Initialzündung für ihr Forschungsprojekt «Theater und Psychosomatik». Sophie Witt, Oberassistentin am Deutschen Seminar, gehört seit 2019 zu den Auserwählten, die in den Genuss des neu geschaffenen Förderinstruments PRIMA des Schweizerischen Nationalfonds gekommen sind. Das Programm, das fünf Jahre dauert, richtet sich an herausragende Nachwuchsforscherinnen, die auf dem Weg zur Professur sind. Hier sitzt sie nun, die junge Frau Witt, in ihrem Büro voller Bücher und Papier, etwas abseits des Trubels, in einem Haus neben dem Hauptgebäude des Deutschen Seminars, forscht und schreibt ihre Habilitation. 
Als Sophie Witt nach ihrer Dissertation, in der sie sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit der Psychoanalyse beschäftigte, Freuds «Studien über Hysterie» von 1895 wieder las, fiel ihr etwas auf: Freud schien ein Faible zu haben für theatralische Szenerien. Seine Patientin Emmy 
von N. beschreibt er in einem Setting, als wäre es ein Bühnenbild in einem Drama von Henrik Ibsen: «Ich finde eine noch jugendlich aussehende Frau mit feinen, charakteristisch geschnittenen Gesichtszügen auf dem Diwan liegend, eine Lederrolle unter dem Nacken.» 
Sophie Witt wurde stutzig. Psychosomatik bedeutet, dass seelisches Leid über den Körper ausgedrückt wird. So, wie aber Freud – und an­dere Ärzte – psychosomatische Fälle beschrieben, schien mehr dabei zu sein als ein bloss medizinisches Interesse. Offenbar waren sie fasziniert von diesen sprechenden Körpern. Dieser Faszination geht Sophie Witt in ihrem Forschungsprojekt nach.

Die Show: Der Arzt und sein Casus

Sie springt auf und zeigt auf dem Computerscreen ein berühmtes Bild: Darauf steht der Arzt und Neurologe Jean-Martin Charcot (1825–1893) – bei ihm hatte Freud hospitiert – im Kreise seiner Studenten und Kollegen am Pariser Hôpital de la Salpêtrière. Im Arm des Assistenten die Patientin Blanche, den Oberkörper nach hinten gebogen, das Handgelenk verdreht, die Augen geschlossen. Mittels Hypnose wollte er ein Fallbeispiel von Hysterie untersuchen. Das Bild erinnert an eine Theater­szene, wie im Amphitheater, das Publikum – die Studenten und Kollegen – neugierig zugewandt, im Mittelpunkt das Schauspiel, die Show: der Arzt und sein Casus. 
Witt setzt sich zurück auf ihren roten Sessel. Neben Germanistik hat sie Theater­wissenschaft studiert. Eine Weile hat sie auch fürs Theater gearbeitet. Als Dramaturgie-Assistentin am Nationaltheater Weimar und am Schauspiel Leipzig und später in Berlin in der freien Theaterszene hat sie verschiedene Produktionen begleitet. Sie lächelt. Heute ist sie zwar nicht mehr aktiv im Theaterbetrieb, dafür aber im Vorstand des Theaters Marie in Aarau. Als Theaterfrau ist sie sensibilisiert für die Liaison von Medizin und Theater – geht es um Psychosomatik, entdeckt sie sie immer wieder.
Den Anfang der psychosomatischen Medizin verortet Witt im 18. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen der Anthropologie, einer Wissenschaft, die Natur- und Geisteswissenschaften zu integrieren versuchte, rückte der Mensch ins Zentrum. Es ging darum – durchaus medizinkritisch –, den Menschen «ganzheitlich», nicht aufs Biologische reduziert zu verstehen. Forscher begannen sich für das Wechselspiel zwischen Körper und Seele zu interessieren.
Das Interesse an Psychosomatik widerspiegelt sich auch in literarischen Texten, die zu der Zeit erschienen, etwa in der Erfahrungsseelenkunde von Karl Philip Moritz oder in dessen Roman «Anton Reiser» (1785–1790). Auch Schillers Promotion «Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen» (1780) lässt sich als Frühtext der Psychosomatik lesen. 1811 schliesslich wurde der Arzt Johann Christian August Heinroth auf den ersten Lehrstuhl für Psychische Therapie an die Universität Leipzig berufen. 

Kunstaffine Ärzte

Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften und der Psychiatrie, geriet das Interesse für Psychosomatik vorübergehend in den Hintergrund, sagt Sophie Witt. Psychisch Erkrankte wurden in Anstalten und Irrenhäusern weggesperrt und verwahrt. Doch mit dem Aufkommen der Psychoanalyse um 1900 erhielt die Psychosomatik wieder viel Aufmerksamkeit. Da waren sie wieder, die sprechenden Körper. Doch wie bloss sollte man verstehen, was sie sprachen? Der Arzt war sozusagen am Ende des Medizinerlateins und fand sich plötzlich als Leser wieder. 
Er musste die Poesie des sprechenden Körpers entziffern – dazu bediente er sich bei den Künsten, erklärt Witt. Tatsächlich gab es zu dieser Zeit auffallend viele kunstaffine Ärzte, Arztschriftsteller und Schriftstellerärzte, etwa Alfred Döblin oder Arthur Schnitzler. Umgekehrt war Sigmund Freud ein begnadeter Schreiber, seine Fallgeschichten lesen sich, als wären es literarische Novellen. Der Psychoanalytiker und Urvater des «Es» Georg Groddeck schrieb neben den medizinischen Abhandlungen auch Romane und Theaterstücke.
Im 20. Jahrhundert kann man diese Spur weiterverfolgen. Die Ärzte, die sich mit der Psychosomatik beschäftigten, bemühten in ihren Untersuchungen immer wieder Theatermetaphern oder -denkfiguren, sagt Witt. Der BRD-Nachkriegspsychoanalytiker Alexander Mitscherlich etwa spricht von der «Ausdrucksgebärde». In den 1980er-Jahren nennt die neuseeländische Psychoanalytikerin Joyce McDougall ihre beiden Hauptwerke «Théâtres du Je» und «Théâtres du corps». 

Sprechende Körper

Die Anleihe beim Theater findet sich aber nicht nur bei tiefendynamischen Psychologinnen und Psychologen. Der Direktor der Charité-Psychiatrie im Berlin der DDR, Karl Leonhard, war ein verhaltenstherapeutisch orientierter Psychiater. Auch er liess sich vom Theater inspirieren. Für sein Konzept der Persönlichkeitsdiagnostik berief er sich auf Ideen der Schauspieltheorie von Konstantin Stanislawski. Witt lacht. Die Faszination von diesen sprechenden Körpern muss so gross gewesen sein, dass er, der Klinikdirektor, in seiner Freizeit seine Oberschwester in verschiedenen affektiven Posen ablichtete, um zu verstehen, wie psychischer Körperausdruck funktioniert. Alle diese zuweilen kuriosen Erforschungszugänge machten Witt hellhörig. Weshalb Ärzte Denkfiguren aus den Geisteswissenschaften und aus den Künsten verwenden, um ihre medizinischen Theorien vorstellbar zu machen, ist eine der Kernfragen, die sie in ihrer Habilitation beantworten will.

Legasthenie der Gefühle

Heute werden in psychosomatischen Abteilungen von Spitälern etwa Angststörungen, Burnout, chronische Müdigkeit, Schwindel oder Tinnitus behandelt. Die Körper sagen uns, wenn etwas nicht mehr stimmt. Sophie Witt zieht ein Buch aus ihrem Regal, es ist von einem anderen Schriftstellerarzt, Georg Büchner. Dessen Leonce sagt im Lustspiel «Leonce und Lena» (1836): «Mein Leben gähnt mich an wie ein grosser weisser Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.» Alexithymie würden heutige Fachärzte vielleicht diagnostizieren, eine Art Gefühlslegasthenie, die der lasche Leonce dem damaligen strengen bürgerlichen Arbeitsethos entgegenhielt – als hätte er unsere heutige Leistungsgesellschaft bereits am Horizont erblickt. Witt versorgt das Buch im Regal. Es bleibt noch viel zu tun.