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Wie die Welle eines Tsunami hat sich das Coronavirus rund um die Welt ausgebreitet und Tod und Verwüstung gebracht. Der Schaden ist gross an Menschenleben, sozial und ökonomisch. Dabei hat es nicht alle Staaten im gleichen Ausmass getroffen. In Europa besonders hart die südeuropäischen Staaten Italien und Spanien, Lateinamerika und, eher überraschend, die USA. Nach dem Gesundheitswesen ist in diesen Staaten auch die Wirtschaft in Seenot geraten und die Staatsverschuldung steigt weiter an.
Die tiefe wirtschaftliche Krise, die auf die Krise des Gesundheitswesens folgt, ist allerdings nicht dem Schicksal geschuldet – sie hat strukturelle Ursachen und legt die Schwächen der betroffenen Staaten schonungslos offen. Neben den maroden, kaputt gesparten Gesundheitssystemen waren die Wirtschaftsstrukturen und Sozialsysteme etwa in Spanien und Italien schon vor der Krise weniger resilient und leistungsfähig als die der nordeuropäischen Staaten. So liegt etwa der Anteil des besonders hart getroffenen Tourismus am BIP in den südeuropäischen Ländern bei 10 bis 20 Prozent, im nördlichen Europa bei 5 bis 10 Prozent.
Noch verheerender ist jedoch, dass in diesen Staaten viele Menschen im informellen Sektor arbeiten, das heisst, sie arbeiten schwarz, ohne oder mit sehr prekären Arbeitsverträgen. Sie haben deshalb ungenügenden Zugang zu Sozialversicherungen und – in den USA – auch ungenügende Gesundheitsversorgung. «Diese Leute fallen in der Krise durch die Maschen», sagt Silja Häusermann, Professorin für Vergleichende Politische Ökonomie an der UZH. Im Gegensatz dazu sind die meisten Arbeitnehmenden in den nordeuropäischen Staaten regulär angestellt und entsprechend versichert und geschützt. «Die Schweiz oder Deutschland müssen in der Krise nicht improvisieren, weil sie bereits über die geeigneten Instrumente verfügen, um den Arbeitsmarkt zu stützen und den Arbeitnehmenden zu helfen», so Häusermann.
Während die Südeuropäer und die USA in der Not erfinderisch werden mussten, um all jenen zu helfen, die nicht versichert waren, konnten die Staaten mit gut ausgebauten Sozialleistungen auf bereits Bestehendes zurückgreifen. In der Schweiz ist das vor allem die Kurzarbeitsentschädigung. Sie erlaubt es Unternehmen, Mitarbeitende vorübergehend freizustellen, ohne sie entlassen zu müssen. Die Lohnkosten werden dabei zu 80 Prozent von der Arbeitslosenkasse übernommen.
Das Instrument der Kurzarbeit ist zugeschnitten auf Länder wie die Schweiz oder Deutschland, deren wichtigste Wirtschaftszweige gut ausgebildete und spezialisierte Arbeitskräfte benötigen. «Diese sollen in ihrem Beruf bleiben, auch wenn die Produktion in einer Rezession für eine gewisse Zeit einbricht», sagt Häusermann, «es wäre in diesen koordinierten Marktwirtschaften sehr ineffizient, wenn Ingenieure vorübergehend als Kellner arbeiten müssten und dann den Wiedereinstieg verpassen.» Die Kurzarbeit dient deshalb insbesondere dazu, den Pool an qualifizierten Arbeitskräften auch in einer Krise zu erhalten, damit er bereitsteht, sobald es wieder aufwärtsgeht.
Wie sich zeigt, sind die Sozialstaaten in den hochentwickelten Ländern sehr unterschiedlich ausgebaut. Häusermann spricht in diesem Zusammenhang von drei «Gleichgewichten». An den beiden Polen einerseits die skandinavischen Staaten mit grosszügigen Leistungen, aber auch hohen Steuern, die stark umverteilen, am anderen Ende der Skala die USA mit viel «Freiheit beziehungsweise Risiko» und tiefen Steuern. Dazwischen befinden sich etwa die Schweiz und Deutschland, was in diesem Moment «ideal» sei, sagt Häusermann, «weil die Sozialversicherungssysteme in diesen Ländern in erster Linie darauf ausgerichtet sind, den Arbeitsmarkt zu stützen.»
Die Schweiz ist vergleichsweise gut vorbereitet, um die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern. Das sei das Ergebnis eines Lernprozesses, der vor gut hundert Jahren seinen Anfang nahm, sagt der Historiker Matthieu Leimgruber. Während des Ersten Weltkriegs verarmten viele Familien, weil die Väter Militärdienst leisten mussten und der magere Sold in keiner Weise ausreichte. Die soziale Misere vieler Arbeiterfamilien war einer der Auslöser für den Landesstreik 1918. «Um zu verhindern, dass sich das wiederholt, wurde 1940 die Erwerbsersatzordnung (EO) eingeführt», erklärt Leimgruber. Diese diente dazu, einen Teil des Erwerbsausfalls von Dienstleistenden zu kompensieren.
Das funktionierte und hatte einen enormen Lerneffekt: «Die Leute haben realisiert, dass sich mit solchen Instrumenten auf einfache Weise grosse Probleme lösen lassen, wenn alle einen vergleichsweise kleinen Beitrag leisten.» So wurde die EO zum Kern und Katalysator der AHV, die 1948 eingeführt wurde, und später, 2004, ergänzt durch die Mutterschaftsversicherung. In der aktuellen Krise wird sie nun auch eingesetzt, um den Selbständigerwerbenden zu helfen, die zwar einzahlen müssen, aber bisher keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hatten.
Viele Menschen in der Schweiz machen jetzt eine ganz neue Erfahrung, sagt Leimgruber: «Unsere sozialen Institutionen kosten etwas und manchmal scheinen sie bürokratisch zu sein. Doch sie befreien die Menschen von der Angst um die Zukunft.» Das zeigt sich in der aktuellen Krise: Während in den USA Millionen von Menschen über Nacht arbeitslos wurden und nicht nur ihre Existenzgrundlage, sondern oft auch ihre Krankenversicherung verloren haben, sind in der Schweiz die Arbeitslosenzahlen dank der Kurzarbeit nur leicht angestiegen. Und wer arbeitslos geworden ist, erhält weiterhin 80 Prozent des letzten Lohns. Allerdings rechnet Leimgruber damit, dass die Arbeitslosenzahlen in der Schweiz Ende Jahr auch hoch sein werden, allerdings weniger hoch als in den USA.
Die solidarisch getragenen Institutionen wie die Arbeitslosenversicherung erlauben uns nicht nur, sorgloser zu leben, sondern auch «demokratischer», so Leimgruber. «Denn wer arm ist, ist nicht wirklich frei und hat es schwer, an der demokratischen Diskussion teilzunehmen.» Das war ein wichtiges Argument bei der Einführung der AHV, erklärt der Historiker. Wie wir wissen, hat auch das funktioniert: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sehr viele alte Menschen in der Schweiz bedürftig. Heute ist die Altersarmut weitgehend eliminiert. Die Geschichte der Schweizer Sozialwerke zeigt, dass wir durchaus in der Lage sind, aus den Problemen der Vergangenheit zu lernen und dann das Richtige zu tun. Historiker Leimgruber formuliert das so: «Gesellschaften, die mit der Vergangenheit in die Zukunft gehen, sind besser vorbereitet.»
In der Krise brilliert auch eine Institution, die von liberalen Ökonomen gerne als entweder überflüssig oder übergriffig verteufelt wird: der starke Staat. So, wie es aussieht, ist der starke Staat, dieser scheinbar omnipotente Protz, der sich meist gut versteckt, die einzige Institution, die uns retten kann. «Mit dem grossflächigen Einsatz der Kurzarbeit und den Notkrediten des Bundes erleben wir gerade die unsichtbare Hand des Staates, die Gutes tut», sagt Matthieu Leimgruber in Anspielung auf die altgediente unsichtbare Hand des Marktes, die der Ökonom Adam Smith (1723–1790) einst imaginierte, um staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft Paroli zu bieten. Gerade jetzt ist alles anders: Der freie Markt geht am Bettelstab, der Staat lässt wie Herkules weitgehend ungeniert seine Muskeln spielen. Was Ängste auslösen kann, zwar nicht vor dem Ruin, aber vor dem «Seuchen-Sozialismus» (NZZ-Chefredaktor Eric Gujer).
Nun, so weit dürfte es nicht kommen, ist Wirtschafshistoriker Tobias Straumann überzeugt: «Nach der Finanzkrise hat sich der Staat relativ schnell wieder aus der Wirtschaft zurückgezogen.» Straumann glaubt auch nicht, dass der Staat längerfristig an Ansehen und Einfluss gewinnen wird. «Wenn alle Fakten auf dem Tisch sind, könnte das potenzielle Vertrauen durchaus wieder in ein wachsendes Misstrauen umschlagen. Etwa dann, wenn die Massnahmen und damit die wirtschaftlichen Einschränkungen und Einbussen im Nachhinein als übertrieben und ungerechtfertigt eingeschätzt werden.»
Und Straumann ist optimistisch, dass die wirtschaftlichen Folgen verdaut werden können, vergleichbar mit der Finanzkrise von 2008. Trotzdem werde die Polarisierung der Gesellschaft zunehmen: «Die Wahl von Donald Trump und der Brexit waren auch Folgen der Finanzkrise von 2008. Die jetzige Krise wird die politischen Gräben weiter öffnen.» Dies prognostizert auch Politikwissenschaftlerin Häusermann: «Die Krise wird die bestehenden Ungleichheiten verstärken», sagt sie. Das gilt für Ungleichheiten zwischen den Staaten, aber auch für jene zwischen den Menschen innerhalb einzelner Länder. Die Folgen von Corona, insbesondere die höhere Staatsverschuldung und die geringeren Steuereinnahmen, werden die Sozialstaaten mittelfristig nicht stärken, sondern eher schwächen. «Dadurch bleibt weniger Spielraum für den sozialen Ausgleich», ist Häusermann überzeugt.
Zu denken gibt ihr in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis ihrer eigenen Forschung. Im Rahmen des EU-geförderten ERC-Projekts «Welfare Priorities» hat ihr Team untersucht, welche Sozialleistungen die Menschen bevorzugen, wenn der Staat sparen muss. Dabei hat sich gezeigt, «dass sie eher eigennütziger werden, wenn sie die Ressourcen als knapp wahrnehmen, nicht etwa solidarischer», so Häusermann. So gewichten sie dann beispielsweise ihre eigenen Renten höher als umverteilende Unterstützung für Leute mit tiefen Einkommen, Arbeitslose, Migrantinnen oder Kinderbetreuung. Die vielgepriesene Corona-Solidarität dürfte deshalb ein zartes Pflänzchen sein, das ebenso schnell welkt, wie es erblüht ist.
Klar ist, dass wir uns für künftige Krisen wappnen müssen, etwa indem wir Puffer schaffen wie nach der Finanzkrise, als die Banken gezwungen wurden, höhere Kapitalreserven anzulegen. «Weil man grosse Krisen eben letztlich nicht voraussagen kann, müssen wir strategische Reserven wie Medikamente, medizinische Produkte und Infrastruktur anlegen. Dinge, die vielleicht jahrelang ruhen, die wir im Krisenfall aber schnell zur Hand haben müssen. Das ist enorm teuer, aber es ist das Einzige, was wir tun können», sagt Tobias Straumann. In diesem Zusammenhang sollte auch die Abhängigkeit von China überdacht werden, findet der Wirtschaftshistoriker. China sei seit langem kein guter Mitspieler im internationalen System, etwa in der WHO oder beim internationalen Handels- und Patentsystem. Deshalb sollte das Land verpflichtet werden, Regeln einzuhalten, und allenfalls auch Sanktionen verhängt werden, so Straumann. «Zudem sollten wir viel mehr diversifizieren und in andere Länder, etwa Indien oder Indonesien, investieren. Es muss nicht immer China sein, wenn es darum geht, Produktion auszulagern.» Und gewisse Dinge, gerade im medizinischen Bereich, sollten wir ohnehin wieder selber produzieren.
Einen originellen Vorschlag zur Krisenprävention macht Joachim Voth: «Es braucht vielleicht sogar einen Stab von Science-Fiction-Autoren», sagt der Ökonom. Denn wir Menschen, so sein Argument, tendieren dazu, die nächste Krise so zu lösen wie die letzte. «Doch die Dinge ändern sich. Deshalb sollten wir uns vielleicht zehn, zwanzig Spinner leisten, die darüber nachdenken, was in Zukunft alles passieren und was das für uns bedeuten könnte.» Voth rechnet damit, dass wir auf Grund der Erfahrungen in der Corona-Krise in Zukunft mehr von uns preisgeben müssen, etwa um mit Handydaten Infektionsketten zurück zu verfolgen. Und wir werden uns vermutlich einschränken müssen, was unsere Bewegungsfreiheit angeht.
Die enorme Mobilität von Menschen rund um den Globus ist einer der Hauptgründe, dass sich das Virus so schnell und flächendeckend verbreiten konnte. Vorstellbar wäre deshalb, so Joachim Voth, dass in Europa künftig spezielle Quarantänemassnahmen für Reisende gelten, die aus Weltregionen kommen, in denen ein erhöhtes Potenzial dafür besteht, dass Erreger von Tieren auf Menschen überspringen. «Das gilt vor allem für Länder in Fernost und Afrika. Menschen, die aus solch infektionstechnisch problematischen Gebieten nach Europa einreisen, müssten zuerst in Quarantäne.» Diese Bestimmung könnte so lange gelten, bis belegt wird, dass in den Herkunftsregionen über eine längere Zeit hinweg kein Erreger mehr von einem Tier auf einen Menschen übergesprungen ist. Ein solches Szenario klinge erst einmal diskriminierend und sei es tatsächlich auch, räumt Voth ein, «aber anders können wir uns nicht schützen».
Schliesslich plädiert der Ökonom mit Blick auf die Zukunft für ein gerüttelt Mass an Pessimismus. Dieser sei der bessere Kompass durch eine Krise als eine optimistische Grundhaltung: «Man muss von Natur aus Pessimist sein, um zu verstehen, wie schlimm eine Krise werden kann», sagt Joachim Voth, «Optimisten, die die Welt immer rosig sehen, haben im Leben viele Vorteile; wenn es um Pandemien geht, gilt das aber nicht.»