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Es ist die letzte Hoffnung. Als er an diesem Frühlingstag vor einem Jahr ins Kinderspital Zürich fährt, sagt Patrick Simonis zu seiner Mutter: «Wenn das nicht klappt, nimmst du mich nach Hause, um zu sterben.» Simonis, 16 Jahre alt, leidet an akuter lymphoblastischer Leukämie. Drei Jahre lang hat er starke Medikamente und Spritzen bekommen, die Nebenwirkungen ertragen: Tagsüber war er immer wieder manisch-depressiv, nachts ohne Schlaf. Einmal kollabierte er mitten in der Nacht, man reanimierte ihn, die Rega flog ihn ins Spital. Und später, nach einer Stammzelltransplantation, verbrachte er sechs Wochen in einer wenige Quadratmeter grossen Plexiglaskabine. «Als er herauskam, war er so schwach wie nie zuvor», erinnert sich seine Mutter.
Und nun also der letzte Versuch, eine neuartige Immuntherapie namens CAR-T: Zellen seines Körpers sollen entnommen, gentechnisch verändert und wieder eingeführt werden. Simonis ist erst der zweite Patient, der in der Schweiz auf diese Weise behandelt wird. Entsprechend wenig ist über die Langzeitfolgen der Therapie bekannt. Die Ärzte schätzen die Erfolgschancen auf rund 50 Prozent. Ausserdem erwarten sie unmittelbare und heftige Nebenwirkungen: Der Sturm, den die Behandlung im Immunsystem auslöst, kann lebensbedrohlich sein.
220 Kinder erkranken jedes Jahr an Krebs. Dabei unterscheidet sich Krebs bei Kindern massgeblich von Krebs bei Erwachsenen (siehe Kasten). Die akute lymphoblastische Leukämie ist mit jährlich rund sechzig neuen Fällen die häufigste Krebsart bei Minderjährigen. Dabei verändern sich weisse Blutkörperchen – die Lymphozyten – bösartig und vermehren sich im ganzen Körper. Damit wird die Bildung von gesundem Blut behindert.
Früher war die Diagnose fast immer ein Todesurteil. Doch die Therapie von Leukämie hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. In den 1960er-Jahren wurden einige der heute noch gängigen Medikamente entdeckt, die Krebszellen bremsen und abtöten können. Dank solcher sogenannter Zytostatika stehen die Heilungschancen heute vor allem für betroffene Kinder gut. Gegen 90 Prozent von ihnen können durch eine intensive Chemotherapie – die Kombination verschiedener Medikamente – geheilt werden. Manchmal ist dafür zusätzlich eine Bestrahlung oder eine Stammzelltransplantation nötig. Falls diese Standardtherapie nicht greift und es zu weiteren Rückfällen kommt, waren die Überlebenschancen bis anhin klein.
Doch das ändert sich gerade. Grund ist vor allem die rasante Entwicklung in der Krebsforschung und in der Gentechnologie. So können heute einzelne Zellen und Gene im Labor viel einfacher verändert werden als früher. Auf diese Art und Weise werden derzeit rund um den Globus neue Behandlungen gegen verschiedene Krebsarten gesucht. Bis diese allerdings von der Forschung in den klinischen Alltag gelangen, dauert es in der Regel viele Jahre.
Eine der wenigen bereits zugelassenen Therapien ist CAR-T. Sie wurde vor einigen Jahren in den USA speziell für Kinder mit lymphoblastischer Leukämie entwickelt und ist seit 2018 auch in Europa erlaubt. Es handelt sich um eine Krebsimmuntherapie. Das bedeutet, dass das körpereigene Abwehrsystem dazu gebracht werden soll, die schädlichen Blutzellen zu zerstören. Konkret werden bestimmte weisse Blutkörperchen, die T-Lymphozyten, im Labor genetisch verändert und auf die Krebszellen abgerichtet. Dabei docken Antigenrezeptoren wie Schlüssel an der Oberfläche der Krebszellen an, worauf diese zerstört werden.
«Für Leukämiepatienten ist die neue Therapie eine Revolution», sagt Jean-Pierre Bourquin, Professor für Kinderonkologie an der UZH und Chefarzt am Kinderspital Zürich. Neben Simonis behandelte er im vergangenen Jahr eine Handvoll weiterer Patienten mit der CAR-T-Therapie. Bourquin räumt ein, dass nicht alle Hochrisikopatienten auf die Therapie ansprechen. «Krebszellen finden verschiedene Wege, den umprogrammierten Abwehrzellen zu entweichen, und wir wissen noch nicht, wie lange die Leukämie mit dieser Immuntherapie unter Kontrolle bleiben kann.» Gerade darum sei weitere Forschung auf dem Gebiet
zentral.
Dass die Forschung zur Kinderleukämie für die Krebsforschung generell relevant ist, zeigt ein Durchbruch, der dem Team rund um Bourquin kürzlich gelungen ist. Dank neuer Entwicklungen in der Gentechnologie konnten die Forscher systematisch die Mechanismen bei der Entstehung und Ausweitung der akuten lymphoblastischen Leukämie untersuchen. Im Zellkern entdeckten sie Proteine, die das genetische Programm fundamental fehlsteuern und so zum treibenden Motor der Leukämie werden.
Von einem dieser Proteine wussten die Forscher, dass es sich mit einem spezifischen Wirkstoff angreifen lässt. Also testeten sie diesen an Mäusen, die menschliche Leukämiezellen in sich trugen. Das Resultat: Die bösartigen Krebszellen starben nach der Gabe des Wirkstoffs ab. Dieser Erfolg könnte die Basis sein, um neue Medikamente gegen Blutkrebs zu entwickeln, die die Krankheit an ihren Wurzeln bekämpfen. «Andere Leukämien entstehen wohl durch ähnliche Mechanismen», sagt Bourquin.
Aber auch Patienten mit anderen Krebsleiden könnten von Forschung wie derjenigen am Kinderspital profitieren. Gelingt es, zu verstehen, wie Krebs entsteht, kann er gezielt behandelt werden. Um die Grundlage für neue Krebsmedikamente zu legen, verfolgt das Kinderspital einen weiteren Ansatz. Gemeinsam mit anderen Forschern der UZH und der ETH Zürich bauen sie eine Art Bibliothek auf, in der Hunderte neuer Wirkstoffe gesammelt werden. Diese werden auf isolierte Leukämiezellen von betroffenen Patienten losgelassen. «So können wir auch unerwartete Behandlungsmöglichkeiten erfassen», sagt Bourquin.
Das Verfahren nach dem Prinzip Versuch und Irrtum hat den Vorteil, dass es sehr effizient ist: Weil es sich um bereits existierende Substanzen handelt, liegt die Basis für die Behandlung bereits auf dem Tisch. Schon heute wird am Kinderspital die Therapie von Kindern mit unheilbaren Leukämien mit diesem neuartigen funktionellen Ansatz gesteuert. Die personalisierten Behandlungen erfolgen im Rahmen von internationalen klinischen Studien.
Bei Patrick Simonis glückt die Behandlung mittels CAR-T. Zunächst vergehen aber einige Monate des Wartens und Leidens. Ärzte nehmen ihm Blut ab und schicken es in einem Beutel verpackt und tiefgefroren per Flugzeug in die USA. Dort werden die Blutzellen in einem Labor genetisch umprogrammiert. Nach vier Monaten kommt der Beutel schliesslich zurück. Ein Bett auf der Intensivstation ist wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen reserviert: Der massive Zerfall der Krebszellen setzt Proteine (sogenannte Zytokine) frei, die einen für das Immunsystem gefährlichen Sturm auslösen. Dieser ist derart heftig, dass viele Erwachsene ihn kaum überleben würden. Kinder jedoch ertragen die Nebenwirkungen besser. Bei Simonis vergehen nach der Gabe der veränderten Blutzellen neun Tage, ehe der Sturm eintritt. Drei Tage leidet er, lebensbedrohlich wird es aber nicht. Dann sitzt er morgens auf dem Spitalbett und will nach Hause.
Bis heute, acht Monate später, wird sich der Krebs nicht mehr im Blut von Patrick Simonis zeigen. Als er wieder zu Hause ist, geht für den Jugendlichen das nächste Abenteuer los: die Rückkehr in die Normalität. Simonis ist zu diesem Zeitpunkt
16 Jahre alt und befindet sich an der Schwelle zum Berufsleben. Weil er schulisch begabt ist, hat er keine grösseren Probleme, das Verpasste nachzuholen. Es gelingt ihm mit Hilfe seiner Mutter und von Bekannten sogar, in sehr kurzer Zeit eine Lehrstelle auf seinem Traumberuf zu finden: als Zeichner in einem Architekturbüro.
Heute führt Simonis ein relativ gewöhnliches Leben. Jeden Morgen steht er um 5 Uhr auf, kocht Reis und bereitet sich damit sein Mittagessen vor. Dann macht er sich bereit, packt den luftdicht verschlossenen Chromstahlbehälter in seinen Rucksack und fährt mit dem Velo die sechs Kilometer über Land nach Aarau. Nur einmal im Monat muss er ins Spital – für eine Infusion mit einem Medikament, das sein Immunsystem stärkt. Denn die Zelltherapie hat nicht nur den Krebs zerstört, sondern auch gutartige Blutzellen.
Simonis gilt zwar aus medizinischer Sicht nicht als geheilt, dafür weiss man noch zu wenig über die Langzeitwirkungen der noch sehr jungen Therapie. Niemand kann sagen, ob der Krebs nicht doch zurückkehrt – morgen, in ein paar Wochen, in zwanzig Jahren. Doch mit dieser Unsicherheit hat Simonis gelernt zu leben. «Im Moment tut es einfach gut, einen Plan zu haben für die nächsten vier Jahre», sagt er.