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Ulrike Ehlert: Krisen können ganz unterschiedlicher Art sein – etwa psychosozial, wenn eine Beziehung auseinandergeht. Sie können aber auch – wie bei der Corona-Pandemie – von aussen an uns herangetragen werden. Das zwingt uns dann beispielsweise, in einer sowieso schon schwierigen familiären Situation noch enger zusammenzuleben oder die eigene Firma zu retten. Und es gibt traumatische Krisen – etwa wenn ein Mensch, der uns nahesteht, tatsächlich am Coronavirus erkrankt und vielleicht sogar daran stirbt. In allen drei Krisenvarianten stecken aber auch Chancen. Wenn ich in einer finanziellen Krise bin, habe ich vielleicht Ideen dafür, wie ich mein Geschäft neu organisiere. Der Tod eines Angehörigen kann eine Chance sein, daran zu wachsen. Deshalb: In einer Krise gerät zwar die Welt aus den Fugen, aber das muss nicht nur schlecht sein. Krise heisst gleichzeitig Chance, das mag zwar etwas abgedroschen klingen, trifft aber zu.
Thomas Schlag: Krisen stellen tatsächlich vieles auf den Prüfstand. Das Verlässliche, das Bewährte kommt durcheinander. Die Corona-Krise nimmt vielen Menschen den Atem – sei es tatsächlich medizinisch oder eben durch schwierige Lebensumstände, die dadurch entstehen.
Schlag: Belastend ist, dass wir dieser Krise nicht wirklich habhaft werden können. Bei ökonomischen Krisen oder bei Kriegen gibt es eher Handlungs- oder Gestaltungsspielraum. Die Pandemie – interessanterweise wird ja auch von einem unsichtbaren Feind gesprochen – entzieht sich dagegen unserer Verfügbarkeit. Wir können kaum einschätzen, wie lange sie schlussendlich dauert. Ein Ende ist jedenfalls trotz Lockerungsmassnahmen nicht absehbar. Die Folge ist eine tiefe Verletzung unserer gewohnten Gestaltungsfähigkeit.
Ehlert: In der aktuellen Krise müssen wir vor allem persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Ich glaube, das ist eines der zentralen Probleme: Für uns – von den Babyboomern bis zu den heutigen Kindern – ist ein Leben mit Einschränkungen eine neue Erfahrung. Das sind wir nicht gewohnt.
Schlag: Wir werden uns jetzt der eigenen Verletzlichkeit bewusst. Wir Theologen sagen immer, dass wir die Dinge nicht selbst in der Hand haben. Das bekommen wir nun unmittelbar vor Augen geführt.
Schlag: Die Bibel ist ein Resonanzraum für menschliche Ur-Erfahrungen. Zu diesen Erfahrungen haben immer schon persönliche und kollektive Krisen gehört. Abgebildet werden sie exemplarisch in der Geschichte von Hiob, den Psalmen oder in der Erzählung über das auserwählte Volk, das durch die Wüste zieht und nicht weiss, ob es überlebt.
Schlag: Sie stossen uns auf den Wert und die Würde des Menschen. Sie werfen die Fragen nach unserem Woher und Wohin auf. Es geht darin nie um die Krise als ein historisches Faktum. Die biblischen Krisen laufen immer auf die Frage hinaus, wie Gott zum Menschen und der Mensch zu Gott steht. Entscheidend ist dabei nicht, ob Gott die Krise ausgelöst hat, sondern worauf wir vertrauen und uns in der Krise verlassen können. Was ist möglich an Hoffnung? Und wie steht es um unsere eigene Verantwortung? Wie muss ich mich verhalten, um mit anderen zusammen gemeinsam durch die Krise zu kommen?
Schlag: Dass man nicht nur nach sich selbst schaut, sondern sich fragt, was der Nächste braucht. Ich telefoniere beispielsweise mehr mit meinen Eltern und meinen Assistierenden und erkundige mich, wie es ihnen geht.
Ehlert: Eine hohe Spiritualität, ein grosser Glaube ist eine wichtige Ressource, um persönliche Krisen bewältigen zu können. Das haben Studien immer wieder gezeigt. Wenn ich an Gott glaube, kann ich vielleicht auch die Einsamkeit besser ertragen. Oder ich kann eher mit einem finanziellen Verlust umgehen oder eine Ungewissheit aushalten. Menschen, die existenziell und finanziell bedroht sind, brauchen Ressourcen. Spiritualität und Glaube helfen, schwierige Lebensphasen besser durchzustehen. Noch gar nicht gesprochen haben wir von Menschen, die mit dem Coronavirus infiziert sind. Sie haben unter Umständen wirklich Todesangst. Auch da hilft ein grosser Glaube.
Ehlert: Wir haben in einer Studie zu persönlichen Krisen von Frauen im Übergang der gebärfähigen Zeit zur Menopause kürzlich ein Modell für Resilienzfaktoren entwickelt. Wichtig sind Optimismus, emotionale Stabilität, emotionale Regulationsfähigkeit, Selbstmitgefühl und Selbstwirksamkeit. Wenn ich optimistisch in die Zukunft schaue, kann ich beispielsweise in der Corona-Krise sagen: «Komm, schreib dieses Jahr ab – es gibt keine Kongresse, keine Auslandsreisen, bleib zuhause und koch deine Marmeladen. Glaub an dich selbst und kümmere dich um deine Mitarbeiter und deine Patienten.» Wenn man merkt, dass es beispielsweise mit den Patienten auch in der Online-Therapie gut läuft, hat man schon viel erreicht. Sprich: Man erfährt sich als selbstwirksam. Das ist enorm wichtig. Dennoch wissen wir auch, dass Spiritualität eine wichtige Ressource für die Krisenbewältigung ist.
Ehlert: Wir Psychotherapeuten wollen die fünf erwähnten Faktoren stärken – ganz unabhängig von der Corona-Krise. Das sind die Pfeiler, auf denen ein psychisch gesunder Mensch aufbauen kann. Ich habe lange im Spital gearbeitet. Aus dieser Zeit weiss ich aber auch, dass es für schwer kranke Patienten enorm wichtig sein kann, in ihrem Glauben abgeholt zu werden.
Schlag: Für uns spielt die Selbstwirksamkeit in der Seelsorge auch eine wichtige Rolle. Die Betonung liegt dort aber nicht so sehr darauf, dass ich alles selbst machen kann. Selbstwirksamkeit heisst vielmehr, darauf zu vertrauen, eben nicht alles selbst in der Hand zu haben. Religion als eine Ressource für Resilienz bedeutet, dass ich meine Fähigkeiten und Grenzen gut miteinander in Verbindung bringe. Selbstwirksamkeit entsteht nicht nur aus mir selbst. Sie wächst mir zu auf Grund eines Gottvertrauens oder einer positiven religiösen Erfahrung, die ich gemacht habe.
Schlag: Das sind auch in der Seelsorge sehr individuelle Entscheide. Für uns in der Theologie ist der Begriff des Empowerments, der Ermächtigung, wichtig geworden. Wir schauen, wo Seelsorge Menschen stärken kann – in dem, was sie bereits mitbringen, und wo man sie unterstützen kann, bei dem, was sie brauchen.
Ehlert: Wenn ich allerdings Gastronom bin und dafür sorgen muss, dass mein Restaurant in der Krise überlebt, hilft mir der Glaube allein nicht viel. Ich muss dann tatsächlich selbstwirksam sein. Ich muss mir Strategien überlegen, wie ich das Beste aus der misslichen Lage machen kann, etwa indem ich Gerichte als Take-away anbiete. Wenn die Krise vorbei ist und das Restaurant überlebt, kann dies eine Erfahrung sein, die sich positiv auswirkt. Weil man sich eben in der Krise als selbstwirksam erfahren hat, stärkt das das eigene Selbstvertrauen enorm.
Schlag: Ich würde nie sagen, in einer Krise müsse man allein auf Gott vertrauen und alles wendet sich zum Besseren. Ein frommer Gastronom, der allein auf Gott vertraut, würde seinen Laden vermutlich nach drei Monaten schliessen müssen. Abgesehen davon kann man in Krisenzeiten auch gute Bewältigungsstrategien entwickeln, ohne dass man gläubig ist. Das ist unbestritten. Der Glaube an Gott kann aber eine positive Energiequelle sein, die hilft, eine Krise besser durchzustehen. Er ist auch ein Glaube an die Zukunft.
Ehlert: Ein wichtiger Punkt ist, den positiven Blick nach vorne zu stärken. Voraussetzung ist, dass ich bereits im Hier und Jetzt schon einige positive Dinge sehe. Das heisst, ich bin in der Lage, auch in einer schwierigen Situation positive Aspekte zu erkennen. Ich habe etwa aus meinem Homeoffice einen wunderbaren Blick auf den See. Das ist positiv. Und auch ein selbst gemachtes Essen kann gut schmecken – es ist keine Qual, sich in die Küche zu stellen und zu kochen, sondern es kann auch Spass machen und man kann dabei miteinander reden. Wer in einer herausfordernden Situation den Blick auf die positiven Aspekte lenkt, stärkt die eigene Resilienz.
Schlag: Was Frau Ehlert gesagt hat, spiegelt sich für mich in den seelsorgerischen Begriffen des Zuspruchs und der unbedingten Annahme des Gegenübers. In der Seelsorge geht es nicht nur um den Zuspruch allein des Seelsorgers, sondern da kommt noch eine andere Dimension ins Spiel – etwa das Gebet. Unser Verständnis von Seelsorge ist potenzial- und nicht defizitorientiert. Das war lange Zeit nicht der Fall. Seelsorge war über Jahrhunderte hinweg entmündigend und indoktrinierend. Das ist heute, meine ich, überwunden.
Ehlert: Man muss zwischen kurz- und langfristigen Konsequenzen unterscheiden. Kurzfristig kann eine Krise sehr schmerzhaft und mit schlimmen Veränderungen verbunden sein. Eine Tante von mir sagte immer: «Wo ein Schaden, da ein Nutzen.» Wenn man sich auf dieses Sprichwort verlässt, geht es auch besser, die kurzfristigen schlimmen Seiten anzunehmen. Was auch zur Resilienz gehört, ist die radikale Akzeptanz. Wir alle haben in der Corona-Krise erfahren, dass wir in unseren persönlichen Freiheiten beschnitten wurden und immer noch ein Stückweit beschnitten sind und bleiben werden. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt dieser Krise. Das ist zwar unangenehm und kann für manche Menschen existenziell sein – finanziell und psychisch. Diese Notlage muss man ernst nehmen, aber auch für die Betroffenen geht das Leben weiter. In fünf Jahren stellen sie dann vielleicht fest, dass die Krise in gewissen Aspekten auch bereichernd war, dass sie ganz neue Seiten an sich kennengelernt haben. So gesehen ist die Krise auch eine Chance.
Schlag: In der Krise gibt es jedenfalls neue Zuordnungen. Man beginnt zwischen Dingen, die einem mehr oder eben weniger wichtig sind, zu unterscheiden. Auch hinsichtlich der eigenen Beziehungen und Netzwerke. Wer ist verlässlich und präsent? Für mich ist die entscheidende Frage, was danach kommt. Ich finde es schwierig, zu beurteilen, ob die aktuelle Krise auch eine Chance ist. Das wird sich erst im Nachhinein zeigen. Ich würde mir aber wünschen, dass wir uns auch als Gesellschaft überlegen, was wir aus der Krisenerfahrung lernen können.
Schlag: Ich würde mir erhoffen, dass sich viele fragen, was für sie existenzielle Lebensqualität ist und was nicht. Was macht das Leben wirklich lebenswert? Das ist keine neue Frage, aber in dieser Krise werden wir mit der Nase darauf gestossen. Wir sollten das zu Herzen nehmen, bevor die Party wieder losgeht, und uns Gedanken darüber machen, wie verletzlich wir eigentlich sind und wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen. Solches in Bezug auf die eigene Lebensführung und die Gesellschaft zu bedenken, wäre eine Chance.
Ehlert: Ich würde mir auch wünschen, dass wir uns überlegen, was uns wirklich wichtig ist. Und was uns im entschleunigten Leben, in das uns die Corona-Krise versetzt hat, gutgetan hat. Ein weniger hektischer, weniger auf Volllast fahrender Alltag hat viele Vorteile für die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität. Ich glaube allerdings, dass wir relativ schnell zum Normalbetrieb zurückkehren werden.