Navigation auf uzh.ch
Bis jetzt ist nur wenig erforscht, wie sich die Anwesenheit von Menschen auf die sozialen Beziehungen von Wildtieren auswirkt. Auch wenn die Tiere nicht getötet oder anderweitig verfolgt werden, könnte der zunehmende Kontakt zu Menschen indirekte tiefgreifende Auswirkungen haben. Denn möglicherweise werden dadurch überlebenswichtige Funktionen von sozialen Gruppen beeinträchtigt – etwa das gemeinsame Fressen oder die Aufzucht der Jungen.
Am Beispiel der Massai-Giraffen in Tansania haben dies Forschende vom Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich (UZH) genauer untersucht. Die Studie liefert den ersten robusten Beweis dafür, dass der Mensch die Sozialstruktur dieser charismatischen riesigen Pflanzenfresser verändert. Ebenfalls an dem Projekt beteiligt waren Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Tierverhalten, der Universität Konstanz sowie von der Pennsylvania State University in den USA.
Für die Analyse brauchte es zunächst eine grosse Menge an Daten aus der Feldforschung: «Es ist eine Herausforderung, zwischen natürlichen und vom Menschen verursachten Einflüssen auf die sozialen Beziehungen zwischen Wildtieren zu unterscheiden», sagt Monica Bond, UZH-Doktorandin und Erstautorin der Studie.
Gemeinsam mit einem Kollegen dokumentierte sie deshalb über einen Zeitraum von sechs Jahren 540 Giraffenweibchen in zahlreichen sozialen Gruppen. Die Tiere leben im grossen Tarangire-Ökosystem in Tansania in unterschiedlicher Nähe zu menschlichen Siedlungen. Die Forschenden identifizierten die einzelnen Giraffen anhand ihrer einzigartigen und unveränderlichen Fleckenmuster. Daraus resultierte das grösste soziale Netzwerk, das je für eine grosse Population wildlebender Säugetiere untersucht wurde.
Die Auswertung lieferte neue Erkenntnisse über die sozialen Beziehungen von Giraffen: Die Weibchen leben in einer komplexen mehrschichtigen Gesellschaft – wobei jedes Tier die Gesellschaft einiger Artgenossinnen vorzieht, während es andere meidet. Das resultiert in klar voneinander abgegrenzten sozialen Gruppen, die etwa 60 bis 90 Weibchen umfassen und sich kaum durchmischen, selbst wenn sie im selben Gebiet leben. «Die Studie zeigt, dass die soziale Strukturierung ein wichtiges Merkmal weiblicher Giraffenpopulationen ist», sagt Barbara König, UZH-Professorin und Mitautorin der Studie.
Die Analyse ergab aber auch, dass die sozialen Netzwerke Anzeichen von Störungen aufweisen, wenn die Giraffengruppen in Kontakt mit Menschen kommen: In der Nähe von traditionellen Dörfern der einheimischen Massai bildeten die einzelnen Giraffen weniger starke Bindungen untereinander aus und interagierten mit insgesamt weniger Individuen.
Die Forschenden vermuten, dass die Giraffen in der Nähe der Dörfer öfter auf Vieh und Menschen treffen, was zur vermehrten Aufsplitterung der Gruppen führen könnte, obwohl die Massai die Giraffen tolerieren. Diese Störung der Sozialstruktur könnte – neben der Wilderei und dem Verlust von Lebensraum und Nahrungsangebot – mit ein Grund dafür sein, dass die Population der Massai-Giraffen in den letzten Jahren um 50 Prozent zurückgegangen ist.
Weitere Untersuchungen zeigten, dass sich Weibchen mit Kälbern eher in der Nähe der traditionellen Dörfer aufhielten – möglicherweise, weil die Jungen dort besser vor Angriffen durch Löwen und Hyänen geschützt sind. «Es scheint, dass weibliche Giraffen mit einem Kompromiss zwischen der Aufrechterhaltung wichtiger sozialer Bindungen und der Verringerung des Risikos für ihre Kälber konfrontiert sind», erklärt Bond.
Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Anwesenheit des Menschen eine wichtige Rolle beim zukünftigen Erhalt dieser Giraffenart spielt. Darüber hinaus unterstreicht die Studie, wie die hochmoderne Analyse von sozialen Netzwerken helfen kann, bislang verborgene Ursachen für den Rückgang von Populationen aufzudecken.
Monica L. Bond, Barbara König, Derek E. Lee, Arpat Ozgul, and Damien R. Farine. Proximity to humans affects local social structure in a giraffe metapopulation. Journal of Animal Ecology. 9 June 2020. DOI: 10.1111/1365-2656.13247