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UZH Magazin 2/20

Ein perfektes Virus

Covid-19 hat Tod und Schrecken über die Welt gebracht. Weshalb das Virus ganz unterschiedliche Krankheitsverläufe bewirken kann, ist heute noch weitgehend unverstanden. Klar ist dagegen, dass die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Pandemien verstärkt werden muss.
Stefan Stöcklin

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Das neue Sars-CoV-2 bringt Tod und Schrecken über die ganze Welt. Doch von einer evolutio­nären Warte aus betrachtet, ist der Keim einfach sehr effizient.

 

Zwischen Weihnachten und Neujahr hörte Alexandra Trkola erstmals beunruhigende Berichte über eine gefährliche Lungenkrankheit in Zentralchina. Der Verdacht fiel schnell auf ein Coronavirus, da die Krankheitssymptome jenen beim Sars-Ausbruch von 2002 und 2003 glichen. Als chinesische Wissenschaftler das Virus isolierten und in der zweiten Januarwoche seine Gensequenz ins Netz und der Scientific Community zur Verfügung stellten, bestätigte sich die Vermutung – und bei der Virologin ging die Alarmglocke los: «Wir mussten immer mit einem solchen Ereignis rechnen, aber ein neues krankmachendes Virus ist natürlich höchst beunruhigend», sagt die Direktorin des Instituts für medizinische Virologie (IMV) der UZH.

Seit Sars (Severe Acute Respiratory ­Syndrome) und Mers (Middle-East Respiratory Syndrome) ist bekannt, wie gefährlich Corona­viren dem Menschen werden können. Mit den publizierten Gendaten machte sich Trkola zusammen mit ihren Fachleuten schleunigst an die Entwicklung eines Tests. Er basiert auf der millionen­fachen Vervielfältigung ausgewählter Erbgut­­abschnitte, dank denen das Virus in Rachenabstrichen infizierter Menschen nach­gewiesen werden kann. Bereits in der letzten Januarwoche lagen diese PCR-Tests vor und erlauben seither, Zehntausende von Proben zu analysieren.

«Äusserst geschickt und effizient»

Das neue Sars-CoV-2 bringt Tod und Schrecken über die ganze Welt. Doch von einer evolutio­nären Warte aus betrachtet, ist der Keim einfach «äusserst geschickt und extrem effizient», sagt Trkola. Das Virus ist eine leblose Hülle mit einem Strang Erbgut (RNA), deren einziges Ziel es ist, in menschliche Zellen einzudringen und diese so umzuprogrammieren, dass sie neue Viren herstellen.

Erfolgreich ist das Virus dann, wenn es möglichst viele Menschen befällt, ohne den Wirt zu töten, da es sich sonst seiner Möglichkeit der Vermehrung berauben würde. Sars-CoV-2 ist in dieser Hinsicht nahezu perfekt. Im Vergleich mit anderen Viren wie dem Aids verursachenden HI-Virus oder dem Ebolavirus ist die Virulenz deutlich kleiner, die Sterblichkeitsrate liegt im einstelligen Prozentbereich. Bei Ebola hingegen erreicht diese Zahl 50 Prozent und HIV-1 führt, unbehandelt, fast immer zum Tod.

Von Covid-19 sind allerdings viel mehr Menschen betroffen, weil sich das hoch­infektiöse Virus über Tröpfchen verbreitet. Ein direkter Kontakt mit Infizierten ist für eine Übertragung nicht nötig, bei HIV oder Ebola hingegen braucht es den Austausch von Körperflüssigkeiten. Besonders heimtückisch ist bei Sars-CoV-2, dass infizierte Personen das Virus weiterverbreiten können, bevor erste Krankheitssymptome auftreten. Studien weisen sogar darauf hin, dass Infizierte einen Tag vor Ausbruch der Krankheit am meisten Viren ausscheiden. Das für den Sars-Ausbruch 2002/03 verantwortliche Coronavirus hatte diese Eigenschaft noch nicht und konnte deshalb leichter eingedämmt werden, obwohl die Krankheit selbst gefährlicher war.

Abwehrkräfte analysieren

Was Virologen und Ärzte besonders erstaunt, ist die enorme Bandbreite der Krankheitsverläufe von Sars-CoV-2. Ein grosser Teil der Infizierten, wahrscheinlich bis zur Hälfte, zeigen überhaupt keine Symptome. Während vor allem junge Leute eine Infektion symptomlos durchmachen, kann sie für ältere Menschen und Risikogruppen einen schweren Verlauf nehmen und tödlich enden. Auffällig ist, dass in manchen Ländern Männer stärker betroffen sind. «Die Unterschiede bei den Krankheitsverläufen sind extrem», sagt Trkola, «und weitgehend unverstanden.» Vermutungen gehen dahin, dass das Immunsystem jüngerer Personen flexibler ist, stärker reagiert und deshalb das Virus besser neutralisieren kann. Am Institut für medizinische Virologie gehen Fachleute mit serologischen Untersuchungen diesen Fragen nach.

Dazu haben die Spezialisten am Institut Antikörpertests entwickelt, mit denen die (humorale) Immunantwort quantitativ und qualitativ beurteilt werden kann. Nach einer Infektion stellen die B-Zellen des Immunsystems verschiedene Klassen von Antikörpern her (Immunglobulinen, Ig), mit denen sie den eindringenden Fremdköper abwehren. In einer ersten Welle bilden sich nach wenigen Tagen zunächst sogenannte IgM und IgA, im späteren Verlauf IgG. Aus dem Verhältnis dieser Antikörper lässt sich auf den Zeitpunkt der Infektion schliessen. In Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital, dem Kinderspital und Hausärzten analysieren die Fachleute am IMV die Immunantworten bei verschiedenen Personengruppen. Zeitreihen werden Auskunft geben über die Entwicklung der Abwehrkräfte und beitragen zur Klärung einer der wichtigsten offenen Fragen: Wie lange bleibt die Immunität nach einer ­Infektion bestehen?

Leben mit Covid-19

Wie viele Menschen infiziert sind und ob sich eine anhaltende Immunität aufbaut, sind zentrale Informationen zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie. «Solange wir keinen Impfstoff haben, brauchen wir möglichst gute Daten», sagt Jan Fehr. Mit diesen Kenntnissen lasse sich auch abschätzen, wer die zukünftige Impfung brauchen wird und wer allenfalls nicht. Der Infektiologe ist Leiter des Departements Public Health am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der UZH und erfasst im Rahmen der «Corona-Immunitas-Studie» zusammen mit anderen Universitäten schweizweit, wie verbreitet Antikörper gegen das neue Sars-CoV-2 in der Bevölkerung vorkommen (siehe auch Interview Seite 54). Die Studie ist ein tragender Pfeiler der Exitstrategie aus dem Lockdown.

«Testen, isolieren, verfolgen – nur so kommen wir Schritt für Schritt aus der Viruskrise heraus», sagt Fehr. Besonders wichtig ist die Kenntnis der Reproduktionsrate R, die angibt, an wie viele Menschen ein Infizierter das Virus weitergibt. Liegt sie unter eins, schwächt sich die Ausbreitung ab. Die Zahl verändert sich laufend und ist in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Regionen unterschiedlich. «Wir sollten diese Zahlen möglichst gut kennen und möglichst repräsentative Bevölkerungsgruppen mit Bluttests prüfen», sagt Fehr. Nur so werde es möglich sein, die Massnahmen kontrolliert zu lockern und mit Covid-19 zu leben, ohne die Menschen allzu stark zu gefährden.

Wie lange diese neue Covid-19-Normalität und die Pandemie andauern werden, darüber können zurzeit Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler keine gesicherte Aussage machen. Wirksame Medikamente und Impfstoffe werden der Krankheit früher oder später ihren Schrecken nehmen. Anzunehmen ist auch, dass wir eine gewisse Grundimmunität gegenüber Sars-CoV-2 aufbauen werden. Ob das Virus dereinst zu einem harmlosen Erkältungsvirus mutieren wird, wie das andere Coronaviren getan haben, oder ob es sich zu einer wiederkehrenden ­Bedrohung wie bei Influenzaviren auswächst, ist offen. Lassen sich dazu Erfahrungen mit ­Pandemien aus der Vergangenheit heranziehen?

Pandemien und Paradoxe

Sofort kommt einem die Spanische-Grippe-Pandemie von 1918 in den Sinn, die – wie man heute weiss – durch ein gefährliches Influenzavirus ausgelöst wurde, das sich aus einem Vogel­grippestamm entwickelt hatte. Der Medizin­historiker Flurin Condrau vom Institut für Bio­medi­zinische Ethik und Medizingeschichte der UZH ist vorsichtig: «Die Situation in der Schweiz ausgangs des Ersten Weltkriegs lässt sich nicht mit heute vergleichen.» So war den Behörden die Natur des Erregers vor hundert Jahren unbekannt. Wie in den meisten Ländern trat die Spanische Grippe in der Schweiz in zwei Wellen auf, wobei die zweite Ansteckungswelle im Winter 1918/1919 mehr Todesopfer forderte als die erste im Sommer 1918. Hauptbetroffen waren damals vor allem jüngere Erwachsene, insgesamt starben in der Schweiz rund 25000 Personen, weltweit zwischen 25 und 50 Millionen, andere Schätzungen gehen von bis zu 100 Millionen Toten aus.

Im Unterschied zu heute war die Bekämpfung nicht Bundessache, sondern wurde an die Kantone und Gemeinden delegiert. Die Schweiz hatte vor hundert Jahren kein so gut organisiertes Gesundheitssystem wie heute. Schon damals wurden allerdings die Schulen geschlossen und ein Versammlungsverbot erlassen. Die Ge­schäf­te blieben offen, übrigens auch die Hörsäle der Universität Zürich – und die Bevölkerung wurde zur Reinlichkeit angehalten.

«Pandemien offenbaren ein Paradoxon», sagt Flurin Condrau. Einerseits kennen Infek­tionskrankheiten keine Grenzen, insbesondere Pandemiestämme nicht, die sich wie Sars-CoV-2 rasch und weltweit verbreiten. Andererseits werden als erste Massnahme Grenzen gezogen: sprichwörtlich zwischen den Nationalstaaten und im übertragenen Sinn zwischen den Menschen, die sich in ihren Wohnungen und Häusern einschliessen. Dabei erfordert die globale Natur der Infektionskrankheit eine möglichst international koordinierte Reaktion. Doch die eigentlich dafür zuständige Weltgesundheitsorganisation WHO sei dazu kaum mehr fähig, stellt Condrau fest.

Zwar forderte sie die Staaten schon vor Jahren zur Erstellung von Pandemieplänen auf und ist aktuell ein wichtiger Ratgeber für medizinische und gesundheitspolitische Massnahmen gegen Sars-CoV-2. «Aber die WHO ist nicht in der Lage, eigene Kampagnen vor Ort zu führen und zu helfen», sagt Condrau. Nach ihrer Gründung 1948 war sie das noch, beispielsweise im Rahmen der Kampagnen gegen Malaria. Dass die USA der UN-Organisation ausgerechnet in der Covid-19-Krise den Geldhahn zudrehen, sei zwar fatal, setze jedoch eine Entwicklung fort, die bereits in den 1980er‑­Jahren begonnen hat.

Jan Fehr, der sich in gewöhnlichen Zeiten vor allem um das Zentrum für Reisemedizin kümmert und das Gesundheitssystem in afrikanischen Ländern aus eigenen Projekten kennt, teilt diese Meinung. «Die WHO sollte gestärkt werden, denn wir können die aktuelle Krise letztlich nur durch globale Kooperation in den Griff kriegen.» Zwar müsse man auf lokaler Ebene handeln und Quarantäne-Massnahmen verordnen, um Übertragungsketten zu unterbrechen. Aber die lokalen Interventionen stehen in einer direkten Wechselwirkung mit globalen Verhältnissen. Was nützt es, wenn die Schweiz oder umliegende Staaten virenfrei werden, aber Länder mit limitierten Ressourcen in anderen Kontinenten nicht? Eine erneute Welle könnte hereinschwappen und unsere Anstrengungen zunichtemachen. «Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz im Sinne von One Health, der verschiedene Aspekte der Pandemie global berücksichtigt», sagt Fehr. Damit zielt er auch auf die Wurzel der Pandemieproblematik ab, die Entstehung gefährlicher Keime in der Tierwelt (siehe Box unten).

Forschende kooperieren weltweit

Für die Virologin Alexandra Trkola ist internationale Kooperation selbstverständlich. «Die wissenschaftliche Community hat in dieser Krise in noch nie da gewesenem Ausmass zusammen­gearbeitet.» Seit der Offenlegung der Erbgut­sequenz des Virus am 11. Januar tauschen Forschende ihre Daten und Befunde weltweit aus, die Journals bieten die Arbeiten ohne Bezahlschranken frei zugänglich open access an. Ein beeindruckendes Beispiel der internationalen Kooperation ist die Website Nextstrain, wo die Genomdaten Tausender von Sars-CoV-2 laufend aktualisiert werden, um ihre genetische Evolution zu dokumentieren.

Auch Trkolas Labor hat Gensequenzen von Viren beigesteuert, die in ihrem Labor sequenziert wurden. Die Stammbäume zeigen, wie die lokalen Ausbrüche weltweit miteinander verbunden sind und ob sich neue Stämme bilden, die neue Tests und Massnahmen erfordern. Dafür gibt es zurzeit keine Anzeichen, aber die Virologin macht klar: Das neue Virus dürfte noch für etliche Überraschungen sorgen.

 

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