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«Oooorder!» musste er gar nicht erst rufen, das Publikum in der Aula der Universität Zürich hing ohnehin an seinen Lippen: John Bercow, der charismatische Speaker des House of Commons, genoss es sichtlich, den rund 1300 Zuhörerinnen und Zuhörern in der Aula und in sechs Übertragungssälen seine Erfahrungen im turbulenten Brexitverfahren dazulegen. Und dass man dabei den guten, alten britischen Humor nicht verlieren sollte, zeigte er gleich selbst: Mehr als einmal gab er witzige Anekdoten zum Besten und imitierte Duktus und Haltung einiger Politiker. Bercow ist der geborene Mister Speaker.
Bercow fühlte sich geehrt, auf Einladung des Europa Instituts der Universität Zürich im gleichen Saal reden zu dürfen, in dem vor 73 Jahren sein «grosser politischer Held und Koloss Sir Winston Churchill» seine Vision von Europa verkündet hatte. Obwohl Churchill damals wohl eher ein europäisches und globales Netzwerk zur Sicherung von Frieden und Freiheit vorschwebte – mehr von der politischen Stabilität in den Nachkriegsjahren getrieben als vom wirtschaftlichen Entwicklungspotential. Churchill sei Internationalist gewesen, kein in der Enge verharrender Insulaner. «There is something bigger than ourselves», soll der ehemalige Premierminister gesagt haben.
«Nun, die EU hat sich anders entwickelt», erklärte Bercow und machte den Sprung in die Gegenwart und zu den derzeitigen Brexit-Verhandlungen. Dem Königreich stünden drei Optionen offen: Ein Austritt aus der EU mit einem Deal, ein Austritt ohne Deal oder eine Verlängerung der Frist bis zum Austritt – alles nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des Parlamentes. Etwas Anderes sei «nicht verhandelbar», unterstrich Bercow als Fürsprecher des Parlaments deutlich. Auf eine entsprechende Frage aus dem Publikum ergänzte er, dass ein zweites Referendum durchaus denkbar wäre: «Nichts ist unmöglich, aber ich weiss nicht, welche von diesen Optionen die wahrscheinlichste ist.» Wie das Brexit-Drama beendet werden kann, kann nur «eine sehr, sehr clevere Person oder ein rücksichtsloser Narr» vorhersagen.
So humorvoll sich Bercow auch gab, in einem Punkt versteht er keinen Spass: Das Gesetz ist das Gesetz, niemand dürfe darüber stehen, «end of discussion». Als Sprecher sei es ganz klar seine Rolle, sich das Recht des Parlaments zur Beschlussfassung einzusetzen. Dass dies mit dem bisherigen, auf Präzedenzfällen, allgemeinen Einverständnis und Traditionen fussenden parlamentarischen Handbuch nicht immer einfach ist, gab er unumwunden zu. Das jetzige Gerangel um den Brexit und die von aussen schwer nachzuvollziehenden Machtkämpfe zwischen Parlament und Regierung schaden dem Ruf und der Glaubwürdigkeit des ganzen Landes, sagte er.
Daher fordert Bercow den Bruch mit der Vergangenheit: «Wir sollten uns überlegen, eine schriftliche Verfassung auszuarbeiten wie andere Staaten auch.» Damit können Missverständnisse vermieden und die Rechte und Pflichten der verschiedenen Institutionen genau festgelegt werden. Eine Expertenkommission «mit starken Nerven und viel Zeit» solle eine schriftliche Verfassung ausarbeiten – nach dem Motto «Keep the Best and Improve the Rest».
Dieses Motto trieb Bercow auch während seiner 10 Jahre als amtsältester Parlamentssprecher an. Bis zu seinem Rücktritt am 31. Oktober will er sich noch einmal voll ins Zeug legen, ganz nach Churchills Ausspruch «keep on buggering on at all times». Der Speaker ist stolz auf sein «nicht unbedeutendes» Vermächtnis. Er hat im Parlament einige alte Zöpfe abgeschnitten und Kinderkrippen, ein Besucherzentrum zur Förderung des demokratischen Verständnisses, mehr Diversität und Lohnaufbesserungen für die am schlechtesten bezahlten Arbeitskräfte im House of Commons eingeführt.
Für die Zukunft wünscht er sich – ganz wie Churchill – mehr Internationalität, weltweit mehr Anstand und gegenseitigen Respekt in der Diskussion und Unterstützung für die künftigen Generationen. Sie seien die Zukunft der Demokratie, «deshalb müsse man die Jugendlichen respektieren, damit sie uns respektieren.» Ab November wird er wohl mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, schreiben und Reden halten, sich für seine Alma Mater engagieren, mehr Arsenal-Fussballspiele besuchen und weiterhin alle Tennispartien von seinem grossen Sportidol Roger Federer verfolgen. Und nein, er werde sich keiner politischen Partei mehr anschliessen, weder Labour noch den Tories.
Bevor er am Laver-Cup in Genf den Matches von King Roger live miterleben konnte, beantwortete er noch Fragen aus dem Publikum. Etwa die, ob mit einer neuen Ausrichtung des britischen Parlaments nicht mehr Kompromissbereitschaft statt stete Opposition möglich wäre. Bercows Antwort: «Leider erreichen Sie mit einer Änderung in der Architektur nicht automatisch auch eine Änderung der Einstellungen.» Andreas Kellerhals, Leiter des Europa-Instituts an der Universität Zürich, setzte noch einen drauf: «Vielleicht sehen wir ja im Jahr 2136 noch Touristen Schlange stehen, die nicht verpassen wollen, wie der Britische Premier einmal im Jahr nach Brüssel kommt. Sie wissen allerdings nicht mehr genau, woher diese Tradition stammt. Gerüchteweise heisst es, dass die Briten zum xten-Mal eine Fristverlängerung für den Austritt aus der EU verhandeln...». John Bercow nahm den ironischen Seitenhieb gelassen und schmunzelte.
Zum Abschluss bekam John Bercow von Kellerhals eine Schweizer Kuhglocke geschenkt, um sich in der verbleibenden Zeit als Parlamentssprecher noch besser Gehör zu verschaffen, sowie eine bunte Tinguely-Krawatte. Diese werde er sicher anziehen, versprach der Krawatten-Liebhaber. Vielleicht, wenn er dann das letzte Mal «Ooooorder!» ruft.