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Genetische Variation – angesammelte Mutationen in der DNA – ist die Triebkraft für alle evolutionären Veränderungen. Je grösser die genetische Variation in einer Population von Lebewesen ist, desto mehr Möglichkeiten stehen ihnen zur Verfügung, um sich an Umweltveränderungen anzupassen und desto schneller funktioniert die Evolution. Es gibt aber auch eine Art von Genvariation, die weder das Aussehen noch das Verhalten eines Organismus verändert. Man nennt sie versteckt oder «kryptisch».
«Die kryptische Variation ist eine unterschätzte Art», sagt Andreas Wagner, Evolutionsbiologe an der Universität Zürich (UZH) und External Professor am Santa Fe Institute, «und sie spielt eine wichtige Rolle in der Evolution». Frühere Arbeiten haben gezeigt, dass die kryptische Variation in natürlichen Populationen eine schnelle evolutionäre Anpassung fördert. Die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen sind jedoch unklar.
Um diese zu erforschen, arbeitete Wagners Team mit Populationen des menschlichen Darmbakteriums Escherichia coli, das ein Plasmid – ein kleines ringförmiges DNA-Molekül ausserhalb des Chromosoms – mit einem Gen für ein gelb fluoreszierendes Protein (YFP) trug. Die Forschenden entwarfen ein zweistufiges Experiment. In der ersten Stufe verwendeten sie ein Verfahren, das Mutationen hervorruft, um die genetische Variation im YFP-Gen zu erhöhen. Für die anschliessende Selektion wählten sie einen engen Bereich der gelben Fluoreszenz. Alle Bakterien, die nicht ausreichend gelb waren, wurden ausgeschlossen – ein Prozess namens «stabilisierende Selektion». Auf diese Weise bauten sie im bakteriellen Erbmaterial Ansammlungen an kryptischen genetischen Variationen auf, ohne die gelbe Farbe des YFP-Proteins zu verändern.
In der zweiten Phase änderte das Team die Selektionsregeln. Nun wählten sie jene E. coli aus, deren YFP-Protein im grünen Teil des Spektrums fluoresziert – «gerichtete Selektion» genannt. Als Kontrolle verwendeten sie Bakterienpopulationen ohne erhöhte kryptische Variation im YFP-Gen. Jene Zelllinien mit einem Reservoir an kryptischer Variation entwickelten grün fluoreszierendes Protein, das sowohl grüner als auch genetisch vielfältiger war als jedes andere, das von den Kontrollpopulationen produziert wurde.
«In unserem Experiment hat die kryptische Variation mehr bewirkt, als die evolutionäre Anpassung schneller voranzutreiben», sagt Mitautor Joshua Payne von der ETH Zürich. Zelllinien mit grossen Reserven an kryptischen Variationen entwickelten grünere YFP-Proteine – darunter auch Formen des Proteins, die für normale Bakterien unzugänglich waren. Und diese entwickelten sich auf mehreren einzigartigen Wegen, die normalen E. coli nicht zur Verfügung stehen.
Die heutigen Methoden, um Evolutionsprozesse im Labor zu steuern, führen oft zu den immer gleichen evolutionären Ergebnissen. Die neue Arbeit zeigt, dass kryptische Variation Mutationen beinhaltet, die für sich genommen schädlich in neuen Umweltbedingungen sind, aber in Kombination mit neuen Mutationen Vorteile bietet. «Dabei werden die Beschränkungen, wie sie während genetischer Anpassungen normalerweise auftreten, aufgehoben», sagt Erstautor und UZH-Forscher Jia Zheng. «Es öffnen sich Türen, um für Varianten eines Proteins zu selektieren, die ansonsten nur selten auftreten würden.»
Fischen in der Wildnis etwa hilft die kryptische Variation, sich an das Leben in Höhlen anzupassen. Es ist ein Speicher an potenziellen Anpassungsmöglichkeiten, der im Notfall verfügbar wird und eine schnelle evolutionäre Veränderung ermöglicht. Im Labor könnte die kryptische Variation genutzt werden, um ein Biomolekül so zu verändern, dass es an einen neuen Rezeptor bindet. «Unsere Arbeit kann helfen, gezielte Evolutionsstrategien zu entwickeln, um Biomoleküle für biotechnologische und medizinische Anwendungen zu finden», ergänzt Zheng. In der Natur ist sie für das Überleben einer Population entscheidend, im Labor wird sie zum nützlichen Instrument für Molekularbiologen.
Jia Zheng, Joshua L. Payne, Andreas Wagner. Cryptic genetic variation accelerates evolution by opening access to diverse adaptive peaks. Science. July 26, 2019.
DOI: 10.1126/science.aax1837