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Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria sah Sir Winston Churchill 1946 einen eisernen Vorhang niedergehen. In der Aula der Universität Zürich beschwor Churchill am 19. September 1946 den Zusammenhalt der europäischen Familie und sprach von einer «Art von Vereinigten Staaten von Europa», einer Struktur, die auf dem zerrütteten Kontinent für Frieden, Sicherheit und Freiheit sorgen würde.
Am selben Rednerpult sprach am Dienstag Kolinda Grabar-Kitarović als Gastrednerin der Special Churchill Lecture. Die Staatspräsidentin von Kroatien versprach mit ihrer Rede «Europe - challenges and perspectives in an ever more complex world» ein «Follow-Up» von Churchills berühmter Rede.
Wie Churchill plädierte auch Grabar-Kitarović für den Zusammenhalt Europas vor dem Hintergrund einer beobachteten Spaltung des Kontinents. Sie stellte zum Einstieg nämlich in Frage, ob der Vorhang in Europa wirklich Geschichte sei. «Ich würde sagen, der Eiserne Vorhang hat sich in einen Seidenvorhang oder einen Baumwollvorhang verwandelt», sagte Grabar-Kitarović. Denn es gebe nach wie vor Unterschiede zwischen Staaten, die früher zum Osten gezählt wurden und Staaten, die zum Westen gezählt wurden oder eben zwischen alten und neuen EU-Mitgliedsstaaten. Dies im Hinblick auf Lebensstandards, die Infrastruktur, aber auch Unterschiede in der Mentalität.
Dabei warnte die Präsidentin vor einer Schichtung der EU, mit der eine zweite Klasse von Bürgern geschaffen werde, und verwies auf die «Drei-Meere-Initiative» als Mittel, um solche Differenzen zwischen den Ländern zu verringern. Die 2015 von Kroatien und Polen angestossene verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Wirtschaft, Infrastruktur und Energiepolitik von zwölf EU-Staaten zwischen Baltikum, Adria und Schwarzem Meer sei zu Beginn missverstanden worden als separierendes Projekt. Dabei sei das Ziel immer der die Kohäsion der Region innerhalb Europas gewesen.
Die Unterschiede zwischen den Ländern der EU waren nur eine von vier Herausforderungen und Perspektiven in Europa, die Grabar-Kitarović thematisierte. Zu diesen gehörte auch die künftige Erweiterung der EU. So sprach sie sich klar für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit heutigen Nicht-EU-Staaten in Südosteuropa aus, und verlieh ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck, dass Albanien und Nordmazedonien nun doch weiter auf Beitrittsgespräche warten müssen. «Frieden, Sicherheit und Stabilität gibt es in Südosteuropa nur, wenn alle Staaten völlig in die EU integriert sind», sagte Grabar-Kitarović. Bestehende Animositäten zwischen südosteuropäischen Staaten gelte es innerhalb der EU auszugleichen. Zudem wies die frühere Diplomatin, die Botschafterin in Washington gewesen war, darauf hin, dass Beitrittsverhandlungen Transformationsprozesse anstossen können.
Für ein starkes Europa, das seine Werte neben Playern wie den USA oder China auf einer globalen Bühne vertreten kann, sprach sich Grabar-Kitarović auch für ein «Rebranding» der EU aus. Das in meisten Ländern kursierende Vorurteil gegenüber der EU als einem «Set von Institutionen, weit weg in Brüssel» gelte es zu korrigieren. Bei Besuchen von EU-Kommissaren oder Regierungsmitgliedern in Kroatien lade sie diese immer ein, in Zagreb auch einmal durch die Altstadt zu spazieren und an der Universität auf die jungen Menschen einzugehen. Denn diese seien die zukünftigen Leader der Union.
Die Präsidentin, die anlässlich eines offiziellen Staatsbesuchs in die Schweiz gereist war, gab zum Schluss auch einen Ausblick auf die EU-Ratspräsidentschaft von Kroatien im ersten Halbjahr 2020.Ausserdem äusserte sich Grabar-Kitarović zu möglichen künftigen Verhandlungen mit der Schweiz. Sollte bis Ende dieses Jahres kein Entscheid zum Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU sowie zur Anerkennung der Schweizer Börse durch die EU zustande kommen, würde Kroatien diese Verhandlungen leiten. Und in Kroatien habe die Schweiz eine «echte Freundin», versicherte Grabar-Kitarović dem Publikum. Sie sehe keinen Grund, die Börsenäquivalenz nicht zu verlängern. Grundsätzlich müsse aber die Solidarität der EU-Länder untereinander gegenüber partikularen Interessen den Vorrang haben.
Die kroatische Staatspräsidentin zeigte sich optimistisch, was die Zukunft der EU anbelangt. Auf Churchills «Let Europe Arise!» zurückkommend, schloss die kroatische Präsidentin: «Europa ist auferstanden, aber es ist an uns, es nicht fallen zu lassen, wenn es stolpert. Jetzt ist einer dieser Momente gekommen. Nun müssen wir zusammenhalten und zusammenarbeiten, um es wieder auf die Füsse zu bringen.»
Melanie Keim ist freie Journalistin.