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Er zählt zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern unserer Zeit: Daniel Kehlmann. Sein Roman «die Vermessung der Welt» war ein Weltbestseller. Neben Romanen hat der 44-Jährige auch Stücke fürs Theater und Filme geschrieben. Da er sich in verschiedenen Bereichen der Literatur bewege, interessiere ihn die Frage, was eigentlich Gattungen seien, schon länger, erklärte Daniel Kehlmann gestern Abend vor vollen Rängen an der UZH. Er nehme die Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung gerne an, um einige «ungeordnete Bemerkungen» zu den Gattungsunterschieden zu machen. Mit Witz und Verve sprach der Visiting Fellow an der New York University über die Grundsätze der literarischen Gattungen. Er sprach dabei auch über seine persönlichen Erfahrungen bei der Arbeit an und mit ihnen.
Die literarischen Gattungen fangen jede für sich unser Leben ein. Aber stets unter einem begrenzten Aspekt. «Sie sind nicht einfach verschiedene Arten des Schreibens, sondern eigentlich sind sie die unterschiedlichen Seiten dessen, was es heisst, ein in der Welt lebender Mensch zu sein», sagte der studierte Philosoph und Germanist. Gattungen seien keine willkürlichen Erfindungen; es werde sie geben, solange Menschen Sätze zu Geschichten zusammensetzten. Kehlmann setzte bei der ältesten und urtümlichsten Gattung an: beim Gedicht. Das Gedicht handle davon, wie es sich anfühle, ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Moment zu sein. Ein Gedicht sei folglich etwas Innerliches, es könne weder objektiv noch allgemeingültig sein.
Die Welt des Menschen bestehe aber nicht nur aus seiner Innenwelt, sie ist genauso ein Ort der Verstrickungen, wo wir einander helfen und uns gegenseitig im Wege stehen. Davon handle der Roman, erklärte Kehlmann. Die beiden Pole Politik und Familie überspannten diese bürgerliche Gattung. Der Roman sei zugleich eine Form der Empathie und der Ironie. In seiner klassischen Ausprägung stelle er die Verwebungen der Gesellschaft dar, und relativiere so gleichsam jeden absoluten Wahrheitsanspruch.
Auch das Drama ist eine Form, in der niemand ganz recht oder unrecht hat. Im Drama führt das dazu, dass wir als Zuschauerinnen und Zuschauer den Konflikt miterleiden. Ein Stück erzähle eine Geschichte immer von einem Konflikt zum nächsten, erläuterte Kehlmann. «Das ist eine unausweichliche Regel.»
Jede Szene auf der Bühne sei ein Streit, der natürlich auch im Verborgenen stattfinden könne. Das gelte für Schnitzler und Ibsen ebenso wie für Ionesco, Beckett oder Reza. Diese Gereiztheit, die sich aus der Natur des Dramas ergebe, übertrage sich auf den Zustand des Schriftstellers. Wenn er ein Theaterstück schreibe, fühle er sich reizbar, angegriffen, sagte Kehlmann. Die Form des Dramas bringe es mit sich, dass es nicht angenehm sei, ein Dramatiker zu sein. «Was den alltäglichen Prozess des Schreibens angeht, arbeite ich lieber an einem Roman als an einem Stück.»
Den Film und insbesondere die Filmserie überrolle derzeit alle anderen Gattungen, sagte Kehlmann. Filme prägten uns heute stärker als Bücher, Dramen, Erzählungen oder Gedichte. Für ihn selbst als Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin gelte das in besonderer Weise. Für ihn seien Film und Roman eng verwandt: Der Film sei eine epische Gattung, die mehr von der Atmosphäre als vom Dialog lebe.
Was den Roman und Film gleichermassen auszeichne, sei die flexible Dramaturgie. Doch etwas könne der Film nicht: im ursprünglichen Sinn denken. Das Voice Over könne die denkende Stimme eines Romans zwar simulieren. «Aber es vermag nichts daran ändern, dass wir da jemanden sprechen hören, während sich das Denken beim Lesen selbst in Form von Gedanken vollzieht», erklärte Kehlmann.
Wie sieht es mit der Adaption aus – der Übersetzung eines Stoffes von einer Gattung in eine andere? Klar sei, dass Gedichte niemals adaptiert würden. «Sie bestehen in und an sich und wollen nie zu etwas anderem werden. Darin liegt ihre Schönheit.» Hingegen liessen sich gerade durch ihre enge Verwandtschaft Romane gut in Filme übersetzen. Eine Filmadaption könne beispielsweise eine intensive Kritik des Romans sein, der ihm zugrunde liege. Der Regisseur fungiere in der Rolle des Lektors, der entscheide, worauf er verzichten würde. Denn: «Adaption ist die Kunst des Weglassens.»
Kehlmann nannte als gelungenes Beispiel dafür Stanley Kubricks Film «Shining», den seiner Meinung nach «vielleicht besten aller Gespensterfilme». Der Film basiert auf einem Roman Stephen Kings. Kubrick habe viele folkloristisch-verharmlosende Details des Romans weggelassen und dadurch das Unheimliche besser zur Geltung gebracht als die Vorlage.
Romane eignen sich für Filmadaptionen, sperren sich aber gegen die Übertragung auf die Bühne. Im deutschsprachigen Theater würden seit einigen Jahren hartnäckig Romanadaptionen gezeigt – selten mit gutem Ergebnis. «Der Grund dafür sind die Gesetze der Gattung», referierte Kehlmann. Das beste Theaterstück sei jenes, das sich gleichsam von selbst ereigne, das von Anfang an unausweichlich seinem Ende entgegenstrebe.
Der Dramatiker habe im Drama abwesend zu sein. Im Roman hingegen sei der Autor immer da und spreche Satz für Satz, Seite für Seite; er könne die dramatische Unmittelbarkeit nur simulieren.