Navigation auf uzh.ch
Der Kapitalismus läuft schlecht per Autopilot. Hin und wieder entgleist er. Dies war der Fall in den 1840-er Jahren in Grossbritannien und ab den 1980-er Jahren bis heute in den westlichen Industrieländern.
Wie man den Kapitalismus wieder auf den richtigen Weg bringt, erklärte der in Oxford lehrende Entwicklungsökonom Sir Paul Collier in einem Vortrag an der UZH. Auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung skizzierte er in groben Zügen die Hauptthesen seines neuen Buches «The Future of Capitalism» (auf Deutsch: «Sozialer Kapitalismus»).
Als erstes nahm der 69-jährige Wirtschaftswissenschaftler Collier das Publikum mit in seine Heimat – in die boomenden Industriestädte Nordenglands im 19. Jahrhundert. Dorthin war Colliers Grossvater von Deutschland aus ausgewandert. Die wachsenden Industriestädte zogen nicht nur Migranten aus dem Ausland an, sondern auch unzählige britische Bauern, die als Fabrikangestellte besser verdienten. Es fehlte jedoch an der nötigen Infrastruktur und öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Epidemien wie die Cholera brachen aus, die durchschnittliche Lebenserwartung sank auf 19 Jahre.
In dieser Zeit merkten die Unternehmer, dass sie gegenüber ihren Arbeiterinnen und Arbeitern auch eine moralische Verantwortung trugen, erklärte Collier. Sie begannen gesunden Lebens- und Wohnraum für ihre Arbeiterschaft zu schaffen. Unter anderem entstand im nordenglischen Halifax auch eine Bausparkasse, die zur grössten Bank Grossbritanniens heranwuchs. Zu Beginn der 1840-er Jahre entstand auch die genossenschaftliche Bewegung. Die Bürgerinnen und Bürger erkannten, dass man sich gemeinsam engagieren muss, um das Leben aller zu verbessern, und dass jeder gegenüber seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Verpflichtungen hat.
Die Genossenschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts legte den Grundstein für einen sozial austarierten Kapitalismus, der zwischen 1945 und 1970 in Europa sowie in den USA gut funktionierte. Diese Periode zeichnete sich laut Collier dadurch aus, dass die Menschen auf der Basis eines starken Zusammengehörigkeitsgefühls viele wechselseitige Verpflichtungen eingingen. Wer es nach dem zweiten Weltkrieg zu Wohlstand brachte, akzeptierte es, wenn er in die Pflicht genommen wurde, Benachteiligte zu unterstützen.
Der Kapitalismus, sagte Collier, sei in der Lage, Massenwohlstand zu erzeugen. Doch in jüngster Vergangenheit spalte er die Gesellschaften zunehmend. Viele Menschen seien von Existenzängsten geplagt.
Collier beschrieb zwei Arten der Spaltung in westlichen Gesellschaften – eine räumliche zwischen boomenden Metropolen und niedergehenden Provinzstädten, sowie eine soziale zwischen Gutverdienenden und Geringqualifizierten. In seinen Ausführungen bezog er sich hauptsächlich auf sein Heimatland. Er kenne diese gesellschaftlichen Risse aus eigener Erfahrung, sagte er. Sein Geburtsort, die einst stolze und prosperierende Stahlstadt Sheffield, liege heute wirtschaftlich und sozial darnieder. Die Globalisierung hätte dazu geführt, dass Stahl billiger in Südkorea produziert würde. Und: In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, sei er der einzige in seiner Familie, der es, mit viel Glück notabene, in den Olymp der Hochqualifizierten geschafft habe.
Diese räumliche und soziale Kluft führt Collier zufolge zu Gewinnern und Abgehängten. Letztere seien anfällig für Ideologien und Populismus und meuterten – man sehe das am Beispiel des Brexit, der eine Rebellion der Menschen aus den Provinzen gegenüber den Hochgebildeten in der Metropole London sei.
Wer trägt die Schuld an all dem oder mit anderen Worten: Wer hat die Basis für eine faire Gesellschaft und damit einen ethischen Kapitalismus untergraben? Collier gab eine etwas holzschnittartige Antwort auf diese Frage und teilte nach links und rechts aus. Linke wie Rechte hätten das Wir-Gefühl aufgegeben und setzten auf Individualismus. Der Rechten warf er vor, sie habe Firmen aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entlassen. Die Linke verfolge zu stark die Umverteilung des Konsums und fokussiere hauptsächlich Opfergruppen. Darüber hinaus warf er den Ökonomen vor, dass sie zu stark dem Bild des gierigen, faulen und egoistischen «Homo oeconomicus» gefolgt seien.
Sämtliche moralische Verpflichtungen, von Individuen, Familien und Unternehmen seien letztlich auf den Staat übertragen worden. Doch der Mensch ist laut Collier eben gerade ein moralischer Akteur, der nicht nur auf die Rolle des Konsumenten reduziert werden will, sondern einer, der versteht, dass Beziehungen Verpflichtungen mit sich bringen, und es für ein erfülltes Leben darauf ankommt, diesen Verpflichtungen nachzukommen. «Menschen, die man am Lebensende befragt, welche Entscheidungen sie am meisten bereuen, erwähnen versäumte Verpflichtungen anderen gegenüber», sagte Collier.
Der Kapitalismus muss für Collier immer ein moralischer sein, doch wie finden wir zu einer ethischen Form zurück? Im Grunde will Collier die ganze kapitalistische Gesellschaft ethisch erneuern. Doch als Pragmatiker, wie er sich selbst bezeichnete, sei man gefordert, die beste Lösung für die gegebene Situation zu finden. Für die Unternehmenswelt forderte Collier, dass Firmen langfristig ethisch verantwortlich handeln und nicht kurzfristige Gewinnziele für ihre Aktionäre verfolgen. Für den Staat, damit meinte er vor allem Grossbritannien, schlug er einen «sozialen Maternalismus vor», der den Menschen in Not mit praktischer Hilfe unter die Arme greift. Daneben benötigten Bürgerinnen und Bürger eines Staats eine gemeinsame Identität, damit ihre Bereitschaft zunehme, sich gegenseitig zu unterstützen. Denn was die Gesellschaft zusammenhält und die Individuen einbindet, ist für Collier das Prinzip der reziproken Verpflichtung und Wertschätzung. Um dieses ethische Netz zu stärken, muss das Narrativ wechselseitiger Verpflichtungen der Bürger untereinander wieder gestärkt werden.