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Was macht uns zu Menschen? Hier, in einem kleinen Labor auf dem Campus der Universität Irchel, könnten Antworten auf diese Frage zu finden sein. In grosszügigen, mit Holzplatten, Leitern und Netzen ausgestatteten Käfigen klettern kleine Affen mit rundlichem Kopf und langen Schwänzen. Im Sekundentakt geben sie hohe Laute von sich, die vereint klingen wie Vogelgezwitscher.
Einer der grösseren Affen macht besonders aufgeregte Signale. Carel van Schaik, Direktor des Anthropologischen Instituts der UZH, zeigt auf ein Baby-Äffchen, das versucht, am Gitter auf der Hinterseite des Käfigs emporzuklettern. «Der grosse ruft: Das ist viel zu gefährlich. Jemand muss ihn stoppen», übersetzt van Schaik. Und tatsächlich, Sekunden später kommt ein älteres Tier, nimmt das Junge vom Gitter weg und packt es auf den Rücken.
Würde man ihn nicht kennen, könnte man Carel van Schaik für einen Affenflüsterer halten. An seinem Wissen über Affen haftet aber nichts Esoterisches, im Gegenteil: Seit vier Jahrzehnten forscht der gebürtige Holländer bereits über die Tiere, viele Jahre an vorderster Front im indonesischen Dschungel, dann 15 Jahre lang als Professor an der Duke University in Durham und seit 2004 als Professor an der UZH. Nächstes Jahr wird van Schaik emeritiert. Das Ende seiner Forschertätigkeit wird es jedoch nicht sein.
«Wir sind zu fast 98 Prozent mit Orang-Utans verwandt, aber niemand würde einen Menschen mit einem Orang-Utan verwechseln», sagt Carel van Schaik. Warum aber hat der Mensch im Lauf der Zeit einen anderen Weg eingeschlagen als seine nächsten Verwandten? Diese Frage ist eines der grossen, ungelüfteten Geheimnisse der Evolutionsforschung. Van Schaik und sein Team vermuten, dass das sogenannte Cooperative Breeding, die gemeinsame Aufzucht der Jungen, das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen Affen und Menschen ist. Sie hat demnach – zusammen mit dem grossen Hirn – die Intelligenz hervorgebracht, die unter anderem unsere Sprache ermöglicht. Im Vergleich zum Menschen sind Menschenaffen im Aufziehen ihrer Jungen dagegen «Egoisten». Van Schaik und sein Team untersuchen nun im Labor auf dem Irchel-Campus Weissbüschelaffen – eine Art aus der Familie der Krallenaffen, die ihre Jungen gemeinsam aufzieht. Indem sie die Konsequenzen dieses «Cooperative Breeding» erforschen, erhoffen sie sich eine Antwort auf die Frage, weshalb wir so schnell so anders geworden sind.
Seit 13 Jahren forscht und lehrt van Schaik an der UZH. «Ich bin mit einer goldenen Kette an meinen Bürostuhl gefesselt», schmunzelt er. Lange Zeit seines Forscherlebens verbrachte er aber nicht im Büro oder in Hörsälen, sondern im Dschungel Indonesiens. Gesamthaft rund neun Jahre lebte er in einfachen Forschungsstationen in den Urwäldern Sumatras und Borneos, ohne elektrisches Licht und mit einfachsten Kochgeräten. «Das war eine wunderbare, intensive Zeit, die schönste meines Lebens.»
Die Tage verbrachte er mit dem «Beschatten» von Orang-Utans. Er verfolgte die Menschenaffen auf Schritt und Tritt, protokollierte minutiös alles, was passierte – alle zwei Minuten ein Datenpunkt, alle 30 Minuten ein GPS-Signal. Am Abend wartete er, bis der Orang-Utan ein Nest gebaut hatte. Dann kehrte er – müde und schmutzig – auf dem Pfad, auf dem er gekommen war, zur Station zurück. Um 4 Uhr morgens stand er wieder auf, um vor Ort zu sein, bevor der Orang-Utan erwachte. Drei bis vier Tage am Stück habe man das durchgehalten, danach sei das Team gewechselt worden.
«Einmal», sagt van Schaik, «stieg ich auf einer Strickleiter hoch in den Baum, um mein Klimagerät zu warten, und sah erst dann, dass da auch ein Orang-Utan sass.» Van Schaik befürchtete, dass dieser das fragile Gerät und die Leiter zerstören könnte. Doch zu seinem Erstaunen interessierte sich der Affe überhaupt nicht für die Gegenstände. «Seither wissen wir, dass wild lebende Orang-Utans Neues grundsätzlich vermeiden.»
Was aber lernen wir aus der Affenforschung über den Menschen? Das vielleicht Wichtigste: Alles Lernen ist sozial gesteuert. Ein Beispiel: Was Orang-Utans fressen, ist kulturell bedingt. Ihren Speiseplan lernen sie von ihren Müttern, älteren Verwandten und Freunden. Kultur macht also schlau, und zwar beim Menschenaffen genauso wie beim Menschen. Auch unsere Intelligenz und was wir daraus machen, ist demnach auf soziales Weitergeben zurückzuführen und nicht angeboren. Dieses Wissen ist zum Beispiel in Erziehungsfragen nützlich: Je mehr man ein kleines Kind abschauen lässt, desto explorativer und auch innovativer wird es im Erwachsenenalter sein.
Im nächsten Jahr wird van Schaik nun pensioniert. Er wird sein Büro räumen, aufhören wird er aber nicht. In seinen Schränken befindet sich ein ungehobener Datenschatz: Hunderte von Ordnern mit noch nicht ausgewerteten Daten. «Aus Borneo haben wir Langzeitdaten über 15 Jahre hinweg», sagt der Anthropologe. Vielleicht finde er dann endlich Zeit, diese zu analysieren. Van Schaik möchte aufzeigen, was aus seiner Forschung für die Gesellschaft relevant ist, und deshalb Bücher über die Menschwerdung und deren Konsequenzen schreiben. «Die Gesellschaft hat mich vier Jahrzehnte lang für die Forschung freigestellt. Nun ist es Zeit, etwas zurückzugeben», sagt er.
Den Anfang hat er bereits gemacht. Gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Kai Michel hat er letztes Jahr das viel beachtete Buch «Das Tagebuch der Menschheit» geschrieben. Es ist der Versuch, die Bibel nicht als Wort Gottes zu lesen, sondern als Zeitdokument der Menschheitsgeschichte. Die Bibel sei eine revolutionäre intellektuelle Leistung, da sie eine moralische Antwort auf soziale Missstände der jeweiligen Zeit gewesen sei, so der Anthropologe. Im Buch der Bücher seien massloser Reichtum, Ungerechtigkeit und Gewalt angeprangert, Nächstenliebe und Solidarität mit den Armen dagegen gefördert worden. «Dann kam Jesus und doppelte nach», sagt van Schaik. «Niemand sollte sich wundern, wenn Leute, die das Neue Testament lesen, zu Kommunisten werden.»
Das «Tagebuch der Menschheit» soll aber nicht sein letztes Buch gewesen sein. Ein Thema, das ihn umtreibt, ist die Ungleichheit. «Ein aktuelles Thema, bei dem es sich lohnt, zu fragen, woher sie kommt», so van Schaik. Unsere ältesten Vorfahren hätten sich als Jäger und Sammler ihren Besitz geteilt, soziales Fehlverhalten sei sanktioniert worden. «Sie lebten in der Gewissheit, dass die Gruppe einen versorgt, wenn einem etwas zustösst.» Grössere soziale Probleme entstanden erst, als die Menschen sesshaft wurden und Landwirtschaft betrieben. Die Solidarität ging verloren, als die Menschen begannen, Vorräte anzulegen, und damit nicht mehr vom Nachbarn abhängig waren. Anders gesagt: Ungleichheit ist nicht etwas, womit wir uns seit Ewigkeiten herumschlagen müssen und an die wir uns angepasst haben. Vielmehr ist sie erst in der jüngeren Menschheitsgeschichte entstanden – als Konsequenz der kulturellen Evolution.
«Auch heute in Zeiten des Populismus wird Ungleichheit wieder zum sozialen Problem», sagt van Schaik. «Die Leute fühlen sich benachteiligt, im Stich gelassen, haben das Gefühl, für sie wird nichts getan. Wir müssen uns fragen, wie gehen wir damit um?» Spricht man mit Carel van Schaik, landet man irgendwann immer bei solch fundamentalen Problemen unseres Zusammenlebens. Carel van Schaik weiss nicht auf alle eine Antwort. Aber zumindest wagt er sich an die grossen Fragen heran.