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Sigmar Gabriel an der UZH

«Europa steht unter Stress»

Sigmar Gabriel sprach am Dienstag auf Einladung des SIAF an der UZH über Europa in einer unbequemen Welt. Das zahlreich erschienene Publikum erlebte eine fulminante Rede, frei gesprochen, mit unterhaltsamen Anekdoten und einem engagierten Plädoyer für Europa.
Marita Fuchs

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«Europa wurde von mutigen Menschen gegründet», sagte Sigmar Gabriel in seiner Rede an der UZH. (Bild: © Andrea Camen)

 

Der ehemalige deutsche Aussenminister und SPD-Politiker nahm sein Publikum mit auf einen Ritt durch die europäische Geschichte, sprach über die Herausforderungen der Digitalisierung, über die Bedrohung durch neue nationalstaatliche Ideen und plädierte für ein starkes Europa, das endlich auch aussenpolitisch mehr Verantwortung übernehmen müsse. 

«Gigantische Leistung»

Warum wurde die EU gegründet? Gabriel beschrieb den historischen Hintergrund: Die EU gründe auf der Erfahrung jahrhundertelanger Kriege und zweier Weltkriege, die von Deutschland ausgingen. «Europa wurde von mutigen Menschen gegründet», sagte Gabriel. Mutig deshalb, weil die Deutschen, die gerade brandschatzend und mordend durch Europa gezogen waren, wieder an den Tisch der zivilisierten Völker Europas gebeten wurden. 

Europa war nie als Weltmacht gedacht, sondern als Projekt der inneren Aussöhnung. Es sollte den europäischen Ländern endlich Frieden bringen. Seine Grossmutter habe zu Hause noch das Lied vom «Franzos mit der roten Hos» gesungen, und sein Vater habe Polen «Polacken» genannt – Menschen zweiter Klasse. Der Aufbau der Europäische Union sei eine gigantische Leistung. «Es gibt keine Region auf der Welt, in der es gelungen ist, innerhalb einer Generation aus Feinden, die sich gegenseitig bekriegt haben, erst Partner und dann Freunde zu machen.» 

Vom VW-Käfer zum Internet

Im Folgenden nannte Gabriel die Herausforderungen, denen sich Europa heute stellen muss. Punkt eins: die Digitalisierung. Hier hinke Europa weit hinterher. «Warum gibt es keinen Cern für künstliche Intelligenz in Europa?», fragte er. Bestehende, traditionelle Geschäftsmodelle, Produkte, Technologien oder Dienstleistungen würden im Eiltempo von innovativen digitalen Erneuerungen abgelöst. «Wir haben noch nicht gelernt, damit umzugehen.» Um das zu veranschaulichen, erzählte er sehr zum Vergnügen der Zuhörerschaft, wie er als junger Mann alles dafür gegeben habe, um mobil zu sein, und lange Zeit auf einen VW-Käfer gespart habe. Seine dreissigjährige Tochter hingegen verbinde Mobilität vor allem mit dem Internet. «Und wer weiss nun am meisten über die Mobilität meiner Tochter?», fragte Gabriel rhetorisch ins Publikum: «Google und Facebook, und nicht VW.» 

Die USA wenden sich ab

Nicht nur die Digitalisierung verändere die Welt, die zweite grosse Herausforderung für Europa habe mit dem so genannten «Westen» zu tun. Die USA fühlten sich nicht mehr an die alte Idee des Westens gebunden. Das habe sich nicht Trump ausgedacht, sondern gehe auf Obama zurück, sagte der ehemalige Aussenminister. Die USA wollten nicht mehr den Weltpolizisten spielen. Deshalb müsse Europa mehr Eigenverantwortung übernehmen und strategische Entscheidungen selbst treffen. Europa müsse beispielsweise eigenständige Antworten darauf finden, in welche Länder Waffen exportiert werden dürften und in welche nicht. Die Nato erwähnte Gabriel mit keinem Wort.

Sigmar Gabriel nahm das Publikum mit Witz und Humor für sich ein. (Bild: © Andrea Camen)

 

China als neuen Player auf der weltpolitischen Bühne sei aus europäischer Sicht keinesfalls zu unterschätzen, meinte Gabriel. Das Land dränge nicht nur auf die ökonomische, sondern zunehmend auch auf die politische Bühne. China dringe in Räume ein, die zuvor durch die Präsenz der USA bestimmt waren. Die One-Belt-One-Road-Initiative, auch «neue Seidenstrasse» genannt, sei keine historische Reminiszenz an Marco Polo, sondern ein geostrategisches Konzept zur Durchsetzung chinesischer Ordnungsvorstellungen – handelspolitisch, geographisch, geopolitisch und letztlich womöglich auch militärisch.

Gabriel gab eine kleine Anekdote zum Engagement der Chinesen in Afrika zum Besten: «Wenn Europäer afrikanische Staaten für eine Zusammenarbeit anfragen, sagen diese: ‘Ja nett, aber bis ihr Europäer bei uns drei Radwege gebaut habt, haben die Chinesen schon drei Flughäfen im Betrieb.’»

Autoritäre Versuchung

Als dritte Baustelle Europas führte Gabriel den aufkommenden Nationalismus an. Die Idee von einer Nation, die Geschichte mache, und die Lobpreisung der starken Führer werde nicht nur von Trump, sondern auch von Putin und Erdogan favorisiert. «Sie erliegen der autoritären Versuchung». 

«Europa steht unter Stress», fasste Gabriel die Situation zusammen. «Wir dürfen aber nicht die Nationalisten für die Misere verantwortlich machen», sagte er. Die Wahrheit sei, dass der Alltag vieler Menschen in Europa prekär sei. Das Wohlstandsversprechen der EU sei nicht überall eingehalten worden. «Auf meine Wahlkampfveranstaltungen haben mir die Leute oft gesagt: Für meine Rente habt ihr Politiker kein Geld, aber für Banken und Flüchtlinge». Die Nationalisten hätten nun ein Angebot für diejenigen, die unzufrieden seien: Den Rückzug auf die nationale Scholle. «Den Austritt aus der EU, den Brexit, das befürworten nicht nur Briten, auch die AfD und Salvini.» Europa müsse schnell Strategien entwickeln, dem zu begegnen», forderte Gabriel. Macron habe damit angefangen. Der französische Präsident wolle in Forschung, Bildung investieren, die Verteidigungsfähigkeit verbessern und  gegen die Jugendarbeitslosigkeit kämpfen –  und das alles in Kombination mit Reformen in einigen europäischen Mitgliedstaaten. Das sei der richtige Weg, nur so könne der drohende Zerfall Europas verhindert werden.

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