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Die Villa am Zürichberg sieht nicht aus wie ein Ärztehaus, sondern eher wie eine Villa Kunterbunt. Gut möglich, dass hier ab und zu eine Pippi Langstrumpf ein und aus geht. Zumindest sind es besondere Kinder, die dieses Haus besuchen. Bea Latal, Co-Leiterin der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital, Professorin und klinische Forscherin, empfängt hier Kinder mit Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten sowie Kinder, die Frühgeburten sind oder einen schweren angeborenen Herzfehler haben.
Bea Latal lächelt und lehnt sich auf dem Holzstuhl in ihrem Büro zurück. Wichtig sei das «Joining», die Kontaktaufnahme mit dem Kind. Nur wenn es der Ärztin gelingt, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, ist eine Untersuchung überhaupt möglich. Dann wird im Spiel, im Gespräch, später mit spezifizierten Fragebogen und Tests abgeklärt, ob das Kind ein Entwicklungsproblem hat. Tatsächlich ist der Bedarf an Abklärungen stark angestiegen. Latal spricht mit ruhiger Stimme und offenem Blick.
Manchmal liege es auch am Umfeld, sagt sie. Die Ansprüche und Erwartungen, die die Schulen und auch die Eltern an ihre Kinder stellen, sind hoch. Dass nicht jedes Kind mitmacht, ist zuweilen schwer verständlich. «Da helfen wir weiter», sagt Latal, «wir sind eine Art Dolmetscher und versuchen zu übersetzen, was das Verhalten eines Kindes bedeuten könnte.»
Oft ist schon viel gewonnen, wenn mehr Verständnis für die Individualität des Kindes da ist. Wenn eine echte Entwicklungsstörung oder eine Beeinträchtigung vorliegt, sind die Beratung und eine präzise therapeutische Begleitung wichtig. «Kein Mensch kann alles können», sagt die Entwicklungspädiaterin. Es sei auch bei den Erwachsenen so, dass einem gewisse Dinge liegen, andere weniger. Den Beruf wählt man seinen Stärken entsprechend. So sollten die Kinder auch auf ihre Stärken setzen können, um ihren eigenen Weg zu finden. Ziel sei es, eine Übereinstimmung zu finden zwischen den Fähigkeiten des Kindes und den Anforderungen des Umfeldes.
Der Blick durch das Bürofenster geht auf den Uetliberg. Die Bergspitze ragt knapp aus dem Nebel. Latal schüttelt den Kopf. Nein, sie selber war kein Problemkind. Sie lernte gern. Sie war ein ehrgeiziges Kind. Der Wunsch, Kinderärztin zu werden, war schon früh da. Seit sie ein Onkel als 13-Jährige darauf angesprochen hatte, liess sie der Gedanke nicht mehr los.
Und tatsächlich studierte sie später Medizin an der Universität Zürich. Bea Latal machte bei Remo Largo ihre Dissertation und kehrte dann für die Spezialisierung in Entwicklungspädiatrie zu ihm zurück. Sie sei beeindruckt gewesen von ihm als Mensch, wie interessiert und den Kindern zugewandt er war.
Es läutet. Bea Latal entschuldigt sich und verlässt für einen Moment ihr Büro. Es ist nicht Pippi Langstrumpf. Ein anderes, genauso aufgewecktes Kind betritt die Villa. Es steigt mit seiner Mutter die knarrende Holztreppe hoch und begrüsst die Ärztin, als wäre sie eine gute Freundin. Sofort erzählt das kleine Mädchen von ihrem Hundewelpen, den sie geschenkt bekommen hat. Latal lässt sich anstecken von ihrer Freude. Das Kind muss sich noch einen Moment gedulden. Die Kinderärztin reicht ihm Zeichenstift und Papier und kommt zurück ins Büro.
Bea Latal hat sich als Entwicklungspädiaterin spezialisiert auf Kinder mit einem schweren Start ins Leben. In zwei Langzeitstudien begleitet sie Kinder mit angeborenem Herzfehler sowie Frühgeborene. Sie beobachtet und überprüft deren Entwicklung, achtet auf mögliche Auffälligkeiten, untersucht allfällige Spätfolgen und sucht nach Möglichkeiten, ihre Lebensqualität zu verbessern.
Die Frühgeborenen-Rate sei in den letzten Jahren stetig leicht gestiegen, erklärt die Forscherin. Zum einen sind die Mütter älter geworden und die künstliche Befruchtung kommt häufiger zur Anwendung. Zum andern hat sich die Spitzenmedizin stark entwickelt, sodass Frühgeburten im Extremfall bereits nach 23 Wochen überleben können. Unter besonderer Obhut müssen dann im Brutkasten die Organe weiterreifen und Komplikationen vermieden werden.
Tatsächlich sind die Überlebenschancen unterdessen sehr gut. Allerdings leiden rund fünf bis zehn Prozent aller sehr früh geborenen Kinder unter bleibenden Beeinträchtigungen wie beispielsweise einer zerebralen Bewegungsstörung, die unter Umständen dazu führt, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Je früher das Kind geboren wird, desto häufiger sind bleibende Schädigungen.
Mit der Langzeitstudie will Latal auch jene Folgen erfassen, die bei der Geburt und in der frühen Kindheit nicht absehbar sind. So konnte die Forscherin zeigen, dass Frühgeborene später Schwächen bei komplexeren Denkleistungen zeigen, wenn zum Beispiel etwas geplant oder organisiert werden muss. Diese Schwierigkeiten kommen aber erst im späteren Schulalter zum Vorschein. Ausserdem, so Latal, stellte sich heraus, dass sowohl Frühgeborene wie auch Kinder mit einem schweren angeborenen Herzfehler eine etwas langsamere Auffassungsgabe haben können.
Latal lächelt. In den vielen Jahren, in denen die Forscherin solche Kinder begleitet, sind schon einige vertraute Beziehungen entstanden. Sie erzählt von einer jungen Frau – Latal kennt sie schon seit dem sechsten Lebesjahr –, deren Lebensweg sie sehr beeindruckt. Das Mädchen hat eine cerebrale Bewegungsstörung und ist dadurch motorisch beeinträchtigt. Sie braucht zum Beispiel mehr Zeit zum Schreiben als andere. Immer wieder hat Latal sie unterstützt, beraten, das Umfeld aus medizinischer Sicht aufgeklärt.Unterdessen ist das Mädchen eine junge Frau geworden und studiert Geschichte an der Universität Bern.Es gehe darum, die Entwicklung dieser Menschen zu beobachten, Auffälligkeiten und Störungen zu erkennen und den allfälligen Zusammenhang mit der Geburt oder der intensivmedizinischen Behandlung zu untersuchen, erklärt die Ärztin. Nur mit diesem Feedback kann sich die so weit fortgeschrittene Kindermedizin auch weiterentwickeln.
Für ihre Leistung ist Bea Latal bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Sie ist Preisträgerin des Newburger-Bellinger Award und 2014 erhielt sie den renommierten Georg-Friedrich-Götz-Preis.
Latal ist selber Mutter von zwei bald erwachsenen Söhnen. Wie ist es ihr gelungen, eine solche Karriere zu machen? Sie lacht. Ein Forschungsaufenthalt in jungen Jahren in den USA sei absolut prägend gewesen. Ihr Mann, ein Biochemiker, musste für ein Postdoc nach Kalifornien. Latal nutzte die Chance und beteiligte sich an einem Forschungsprojekt in San Francisco. Ihre damalige Mentorin hatte sie nicht nur in der Forschungsarbeit bestärkt, sondern auch ein modernes Rollenmodell vorgelebt, bei dem Familie und Karriere unter einem Hut Platz haben. Das hatte sie für ihr eigenes Lebenskonzept motiviert.
Unterdessen engagiert sich Latal selbst als Mentorin bei der Nachwuchsförderung und setzt sich für familientaugliche Arbeitsbedingungen ein. So hat das Kinderspital beispielsweise längst eine eigene Krippe, und Teilzeitarbeit ist auch bei zahlreichen Ärzten und Forscherinnen üblich. Die Pädiaterin schaut auf die Uhr. Pippi Langstrumpf wartet im anderen Zimmer auf sie. Sicher ist sie längst fertig mit ihrer Zeichnung. Vielleicht hat sie unterdessen den Hundewelpen gezeichnet, von dem sie erzählt hat. Latal entschuldigt sich und eilt aus dem Zimmer. Sie will wissen, wie es dem kleinen Mädchen geht.