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Am 7. Mai 1572 entlädt sich – nach Jahren extremer Wetterlagen und Ernteausfällen – auch noch der Himmel über Zürich und ein Blitz schlägt ins Grossmünster ein, das Epizentrum der Zürcher Reformation. Was heute als Naturphänomen verstanden wird, war in Zeiten konfessioneller Richtungskämpfe als Zeichen Gottes interpretiert worden. Erste Gerüchte machten die Runde, die im Blitzschlag einen göttlichen Fingerzeig gegen die Zürcher Kirchenoberen sahen. Heinrich Bulliger, Zwinglis Nachfolger als Reformator, erkannte die Gefahr von Fehlinterpretationen und verschickte Briefe, in denen er das Ereignis relativierte. Seine sachlichen Schilderungen schrieb er auf ein separates Blatt, das von Hand kopiert und weitergereicht werden konnte. So griff Bullinger möglichen Falschmeldungen vor und wahrte die Deutungshoheit über den «göttlichen» Blitzschlag.
Dieses Ereignis ist nur ein Beispiel der umfangreichen Korrespondenz des Reformators, Humanisten und Historikers Heinrich Bullinger (1504-1575). 12'000 Briefwechsel in über 50 Jahre mit Geistlichen, Königen und Fürsten, mit Händlern und Studenten schilderten theologische Auseinandersetzungen, politische Ereignisse, die wirtschaftliche Lage oder Wetterereignisse. Dank dieses europaweiten Korrespondentennetzes waren Bullinger und Zürich Zentrum eines gut informierten Nachrichtensystems.
«Hätte Heinrich Bullinger heute gelebt, hätte er wohl Social Media genutzt», sagt Gabriele Siegert, Prorektorin der Universität Zürich anlässlich der Ausstellung «Florian Germann: Die Stral / Nachrichten von Heinrich Bullinger» im Hauptgebäude der UZH. Die Universität Zürich unterstützt im Rahmen der 500-Jahr-Feierlichkeiten zur Zürcher Reformation diese künstlerische Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Bullinger-Briefe. Für die von ZH-REFORMATION.CH geförderte Ausstellung hat der Schweizer Künstler Florian Germann eigens Werke geschaffen, die historische Aspekte kreativ umsetzen. Teile der Korrespondenz von Heinrich Bullinger liegen in der umfangreich bebilderten Publikation «Nüwe Zyttungen» zum Mitnehmen auf. Sie gibt den Ausstellungsbesuchern einen spannenden Einblick in verschiedene Themen zur Reformationszeit und zeugt vom Brief als wichtiges Nachrichtenmedium. Weiter befasst sich eine Veranstaltungsreihe mit der Apokalyptik und den Briefen Bullingers.
Florian Germann nimmt das Naturereignis des Blitzschlags – «die Stral» bedeutet auf Frühneuhochdeutsch «Blitz» – auf und zeigt fünf einzelne Skulpturen, die zusammen eine begehbare Rauminstallation ergeben. Sein Interesse gilt den energetischen Prozessen und den physischen, sozialen und narrativen Kräften, die freigesetzt werden und die Menschen beeinflussen. «Germann reiht seine Objekte, eine Mischung aus physikalischem Instrument und modernistischer Skulptur, zu einer Art Versuchsanordnung in verschiedenen Kapiteln aneinander. Es entstehen inhaltliche Bezüge zum damaligen Ereignis des Blitzeinschlags. Der Künstler interessiert sich in der Installation für die heutigen Auswirkungen der Klimaveränderung auf Kommunikation, Gesellschaft und den Glauben», fasst Luca Beeler, der Kurator der Ausstellung zusammen.
«Bullingers Briefe können heute als Zeugnis für die Geschichte und Kultur Zürichs und ganz Europas in der Frühen Neuzeit genutzt werden», erklärt Peter Opitz, Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte. An dem von ihm geleiteten Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte der UZH wurden bisher etwa 3’000 auf Lateinisch und Frühneuhochdeutsch verfasste Briefe ediert. Dazu mussten viele unterschiedliche Handschriften entziffert sowie die Briefe geschichtlich eingeordnet und erläutert werden. Zusammenfassungen sollen den Zugang erleichtern. Die Arbeit ist noch lange nicht abgeschlossen. «Geplant ist zudem, diesen historischen Schatz Zürichs digital zu veröffentlichen und einer internationalen Forschergemeinde verfügbar zu machen», so Opitz.
Die Publikation «Nüwe Zyttungen» erlaubt Einblicke in ein aktives reformatorisches Nachrichtennetzwerk und gibt Aufschluss über die Kommunikationsstrategien Heinrich Bullingers. Mit seinem europaweiten Korrespondenznetzwerk schuf er über die Jahre ein umfassendes Nachrichtensystem und machte Zürich zu einem Zentrum des Nachrichtenaustausches. Handschriftliche Nachrichten gingen nicht nur von einem Absender zu einem Empfänger und endeten dort. Sie wurden abgeschrieben, herumgereicht, weiterversandt oder in Chroniken gesammelt.
Herausgeber: Luca Beeler, Gina Bucher, Andreas Koller, Verlag Scheidegger & Spiess)