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Nein, der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli war kein Heiliger. Er war gerade im Begriff, sein einflussreiches Amt als Leutpriester am Grossmünster in Zürich anzutreten, als das Gerücht aufkam, er habe in Einsiedeln eine Jungfrau geschwängert. Was den konkreten Fall dieser Schwangerschaft anbelangt, stritt er zwar jegliche Schuld ab, gab aber zu, ansonsten das priesterliche Keuschheitsgelübde mehrfach gebrochen zu haben. Reuevoll schrieb er dem Chorherrn des Grossmünsters: «Da ich eben in Einsiedeln niemanden fand, der diese Lebensweise mit mir teilte, wohl aber nicht wenige, die mich verführten – ach! da bin ich gefallen und dem Hunde gleich geworden, der sich seinem Auswurf zuwendet.» Die amourösen Eskapaden schadeten der Karriere des jungen Geistlichen aus dem Toggenburg nicht im Geringsten: Ohne Umstände wurde er 1519 zum Leutpriester gewählt.
Zur Zeit der Renaissance-Päpste, die sich in Rom wie weltliche Machthaber gebärdeten, Orgien feierten und Besitztümer anhäuften, war es nicht aussergewöhnlich, dass die Kirche beide Augen zudrückte, wenn Geistliche «dem Hunde gleich» ihren Trieben folgten. Zwingli profitierte von dieser laxen Praxis, empörte sich aber zugleich darüber. Vehement setzte er sich für die Abschaffung des priesterlichen Eheverbots ein. Die Zölibatsverpflichtung war ethisch in seinen Augen unhaltbar, weil sie die Priester reihenweise dazu trieb, ihre Sexualität illegal auszuleben.
Zwingli war eigentlich Befürworter einer starken Obrigkeit. Legitim war sie seiner Ansicht nach aber nur, wenn sie dem christlichen Tugendideal folgte. «Strenge Gesetze aufzustellen, um sie dann zu unterlaufen, das war für Zwingli Inbegriff von Verkommenheit und schlechter Führung», sagt Matthias Neugebauer. Neugebauer ist Titularprofessor am Theologischen Seminar und forscht im Bereich Ethik. In seinem soeben erschienenen Buch «Ulrich Zwinglis Ethik» porträtiert er den Reformator als wort- und weltgewandten Denker und zugleich als moralisch hochgradig sensibilisierten Tatmenschen. Zwingli, so lernt man, vertrat seine Prinzipien nicht nur auf der Kanzel, sondern bemühte sich nach Kräften, ihnen auch im Leben gerecht zu werden.
Bezeichnend für seinen Charakter war zum Beispiel, dass er drei Jahre nach seinem Amtsantritt am Grossmünster das von ihm kritisierte priesterliche Eheverbot brach, indem er heiratete. Neugebauer wertet diesen Entscheid als ethisches Statement und als einen bewussten reformatorischen Schachzug. Die Hochzeit blieb zunächst geheim und wurde erst nach zwei Jahren publik gemacht. Die verzögerte Bekanntgabe hatte taktische Gründe, wie Neugenauer vermutet: «Zwingli fiel nicht mit der Tür ins Haus, sondern wartete ab, bis der Zeitpunkt günstig und seine Position in Zürich gefestigt war.» So ging er häufig vor – und hatte damit Erfolg: Er war nicht nur ein Reformator in praktischer Absicht, er verfügte auch über das nötige seelsorgerische und strategische Geschick, um seine Absichten zu verwirklichen.
Wiederholt gelang es dem Zürcher Reformator, einschneidende Neuerungen vergleichsweise elegant und geräuschlos einzufädeln. Zum Beispiel schaffte er es, dem Bischof von Konstanz die Hoheit über das Eherecht zu entziehen und sie dem Zürcher Rat zu übertragen – ein für die damalige Zeit beispielloser Angriff auf die klerikale Autorität, dessen Tragweite in Konstanz und Rom jedoch völlig unterschätzt wurde. Papst und Bischöfe hielten die Ereignisse in Zürich für ein Begleitphänomen der mitteldeutschen Reformation, zu der im Grunde schon alles Nötige gesagt worden war. Zwingli unterflog gewissermassen den Radar des kirchlichen Establishments. Im Gegensatz zum draufgängerischen und lautstarken Luther wurde er deshalb auch nicht als Ketzer verurteilt und mit dem Kirchenbann belegt.
Der Zürcher Rat blieb derweil nicht untätig. Er holte das Maximum aus den neuen Befugnissen heraus, die ihm dank Zwingli zugewachsen waren. 1525 wurde in Zürich ein aus Pfarrern, Untervögten und Zunftmeistern zusammengesetztes kommunales Ehegericht etabliert, das bald schon zum Sittengericht mit weit gesteckten Zuständigkeiten erweitert wurde und eine erstaunliche Dynamik entfaltete: Geahndet wurden zum Beispiel Alkoholmissbrauch, Fluchen, Glücksspiel, Gotteslästerung, ausbleibender Gottesdienstbesuch, spätes Heimkommen, Herrenbesuch, Kuppelei, Prostitution, ausufernder Tanz, Verschwendung, Zuhälterei und vieles mehr. Zürich wurde ein sittenstrenger Polizeistaat. Das Denunziantentum trieb hässliche Blüten.
Zürichs zählebiges Image als Hochburg lustfeindlichen Biedersinns wurde in diesen Jahren geprägt – ebenso das Bild Zwinglis als eines morallischen Rigoristen mit diktatorischen Zügen. Für Matthias Neugebauer ist das eine Karikatur, die der historischen Person nicht gerecht wird. Er setzt die Akzente anders. «Wie jeder ernsthafte Ethiker hat Zwingli den Leuten wohl ab und zu die gute Laune verdorben, aber ein eifernder Tugendtyrann war er deswegen noch lange nicht», sagt er. «Zwinglis tiefer Glaube an die christliche Botschaft, sein nüchterner Verstand und seine umfassende humanistische Bildung machten ihn unanfällig für jeglichen radikalen Dogmatismus.»
Neugebauer zeichnet in seinem Zwingli-Buch das Bild eines demokratisch denkenden, moderaten und bodenständigen Pragmatikers, der Wert darauf legte, Entscheidungen auf der Grundlage gemeinschaftlicher Beratung zu fällen. Besonders hält er dem Zürcher Reformator zugute, dass er sich dem Leben mit seinen Widersprüchen und moralischen Dilemmas stellte, Verantwortung für das Gemeinwesen übernahm, klare Entscheidungen traf und das Risiko nicht scheute, sich angreifbar zu machen. «Wenn Luther ein religiöses Genie war, dann war Zwingli ein ethisches Genie», sagt Neugebauer. «Für Luther, den Mönch und Professor der Theologie, stand die Beziehung des Menschen zu Gott im Vordergrund, während es Zwingli, der aus der seelsorgerischen Praxis kam, primär um die soziale Verantwortung ging, die aus dem Christsein resultiert.»
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