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Der 11. Januar 2016 sollte ein folgenschwerer Tag im Leben von Ayse Dayi werden. An jenem Tag unterschrieb die Assistenzprofessorin für Psychologie an einer privaten Universität in Istanbul eine Petition mit dem Titel «Wir werden kein Teil dieses Verbrechens sein». Die Gruppe «Academics for Peace» forderte mit der Unterschriftensammlung ein Ende des harschen Militäreinsatzes in den kurdischen Gebieten der Türkei und eine Rückkehr zu den Friedensverhandlungen, wie sie zuvor von der Regierung geführt wurden.
Wenige Tage danach verlor Ayse Dayi ihre Stelle an der Universität. Gekündigt wurde ihr auf Druck der Regierung. Doch das war erst der Anfang der Repression gegen die Hochschulen, wie Ayse Dayi diese Woche an einer Veranstaltung an der Universität Zürich berichtete. Sie sprach auf Einladung der Abteilung Internationale Beziehungen der UZH, die derzeit mehrere Veranstaltungen zum Thema Migration und Flucht organisiert (vgl. Kasten).
Einen Tag nach der Lancierung der Petition bezeichnete Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Petitionäre als Terroristen und Verräter, berichtete Ayse Dayi. Die mehr als 1100 Akademikerinnen und Akademiker erlebten in der Folge Hausdurchsuchungen, verloren Scholarships, wurden an ihren Hochschulen bedroht, entlassen oder gar verhaftet.
Die Situation verschlimmerte sich noch nach dem Putschversuch im Juli 2016. Im folgenden Ausnahmezustand mit Notrecht wurden mehr als 130'000 Angestellte des öffentlichen Dienstes entlassen, zum Teil Verfahren gegen sie eröffnet und 15 private Universitäten geschlossen, wie Dayi in ihrem Vortrag an der UZH ausführte: «Heute herrscht ein Klima der Angst und des Misstrauens an den Hochschulen. Studierende und Wissenschaftler spionieren sich gegenseitig aus.» Das Ziel der Regierung ist gemäss Dayi klar: Die Hochschulen und andere Institutionen wie Medien, Polizei, Armee und Gerichte von kritischen Stimmen zu säubern.
Nachdem Ayse Dayi die Türkei am Ende Mai 2016 verlassen hatte, verbrachte sie zwei Monate an einer Hochschule in Paris – dank eines Gaststipendiums der französischen Botschaft. Dann erhielt sie eine zweijährige Anstellung an der Universität Lausanne, dank der Mitgliedschaft der Universität bei der Organisation «Scholars at Risk» (vgl. Kasten).
Dayi weiss nicht, was geschehen wird, wenn ihre Forschungszeit an der Universität Lausanne zu Ende ist – ihr weiteres Leben ist massgeblich von der politischen Entwicklung in der Türkei abhängig .
Verzweifeln will sie aber nicht. Die Solidaritätsbekundungen in verschiedenen europäischen Ländern machen ihr Mut. Die Europäischen Universitätsvereinigung (EUA) beispielsweise verurteilte die Einschränkungen der akademischen Freiheit in der Türkei, ebenso die französische und und die deutsche Rektorenkonferenz sowie swissuniversities mit ihrem Präsidenten Michael Hengartner.
«Wir müssen kreativ bleiben und dürfen die Hoffnung nicht verlieren», sagte Dayi an der UZH. Das gelte sowohl für die Geflohenen wie auch für diejenigen, deren Pass unter der türkischen Notverordnung annulliert oder eingezogen wurde und die im Land sozusagen gefangen seien. Was die Kreativität anbelangt, so sind in verschiedenen Städten der Türkei Solidaritäts-Hochschulen entstanden, die auf offener Strasse und in Pärken Vorlesungen organisieren. Zudem wurden Funds zur Unterstützung von entlassenen Forschenden ins Leben gerufen – unterstützt etwa von Education International oder durch Crowdfunding-Kampagnen.
Ayse Dayi hofft, dass schweizerische Hochschulen noch vermehrt entlassenen oder bedrohten türkischen Forschenden Anstellungen anbieten – und dass beispielsweise der Schweizerische Nationalfonds oder das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation Forschungsgelder für sie sprechen.
Seit Januar 2016 sind bei Scholars at Risk rund 550 Bewerbungen aus der Türkei eingegangen, berichtete Dayi. Es sind dies mehr als doppelt soviele Gesuche wie 2015 aus allen Ländern zusammen eingingen. Heute sind drei türkische Forschende in der Schweiz, rund 100 in Deutschland sowie 50 in Frankreich zeitlich begrenzt an Hochschulen tätig.
Die Repression gegen die türkischen Hochschulen habe bereits eine starke Wirkung entfaltet, sagte Dayi an der UZH. Die einen Hochschulen übten sich in Selbstzensur, bei anderen seien die Schulleitungen gleich neu mit regierungsnahen Personen besetzt worden – bisweilen wurden sie vom Staatspräsidenten selbst bestimmt. Ayse Dayi erwähnte den Aufruf der Organisation «Academics for Peace» zum Boykott der Zusammenarbeit mit den betroffenen Hochschulen. Auch wenn dies aus Sicht der internationalen Zusammenarbeit schwerfalle: «Die Hochschulen ausserhalb der Türkei sollten klar sagen, dass es Grenzen gibt und sie mit solchen Universitäten nicht kooperieren», sagte Ayse Dayi.